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Das Ende der Heimat

Von Helmut Höge
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Indem »das Leben« am Beispiel der Viren und mit Hilfe von Kybernetik und Informationswissenschaften im Rahmen der US-Kriegsforschung als Code begriffen, d. h. »geknackt« wurde, konstituierte sich fast weltweit eine Molekularbiologie, für die »lebendige Entitäten« wie (programmierte) Computer funktionieren. Dergestalt wurden Mensch und Maschine wesensgleich; ihre Austauschbarkeit war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu besiegelt. »Die neue Semiotik wurde in den neuen Bedeutungsregimen des industriell-militärisch-akademischen Komplexes und der Kultur des Kalten Krieges formuliert«, schreibt die Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay.

Ab 1970 forschte der chilenische Neurobiologe Humberto Maturana am »Biological Computer Laboratory« in den USA. Von dort aus gab er den »Artificial-Intelligence-Forschern« zu bedenken, sie »ahmten biologische Phänomene nach. Wenn man (aber) biologische Phänomene nachahmt und dabei nicht zwischen dem Phänomen und seiner Beschreibung unterscheidet, dann ahmt man am Ende die Beschreibung des Phänomens nach.« Seine Überlegungen gipfelten 1975 in dem Buch »Autopoietic Systems«.

Diesen Begriff – Autopoiesis – griff der Marxist Robert Kurz auf, um damit die bisherige »reale Selbstzweckbewegung der permanenten Verwandlung von Arbeit in Geld« zu beschreiben, die zur bloßen Erscheinung von etwas anderem degradiert wird, »nämlich der autopoietischen Bewegung des entkoppelten Finanzkapitals und seiner Creatio ex nihilo in der Zirkulation von Eigentumstiteln«. Dieser »potentierten Verkehrung von Wesen und Erscheinung« entspricht laut Kurz auch faktisch eine Verkehrung von materieller Produktion und Wertform als Geldform: »Nicht mehr die Realakkumulation trägt einen Finanzüberbau, sondern das Recycling von substanzloser Geldform generiert zunehmend überhaupt erst materielle Produktion, indem die Gewinne aus den Preisbewegungen der Eigentumstitel als Kaufkraft reale Güter nachfragen.«

Die materielle Produktion wird mit der Verselbständigung des Finanzkapitals zu einem »Nebeneffekt«, von dem jedoch »das Wohl und Wehe von Betrieben und Regionen abhängt, die nicht aus ihrem ›Standort‹ aussteigen können, sowenig wie ein Mensch aus seinem Körper ›aussteigen‹ kann«.

»Die Ursache besteht eindeutig darin, dass in der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik der Effekt der ›Freisetzung‹ von Arbeitskraft die für die neuen Technologien notwendige Anwendung zusätzlicher Arbeitskraft nicht nur weit übertrifft, sondern erstmals in der kapitalistischen Gesellschaft auch die Produktion des ›relativen Mehrwerts‹ aushebelt. Die ›Entsubstantialisierung‹ des Kapitals tritt damit in ein historisches Reifestadium.«

Nur scheinbar geriert es sich dabei neokolonialistisch, in Wirklichkeit streift es alle einstigen Territorialisierungen ab. Nach dem ersten bemannten Weltraumflug empfand der Philosoph Emmanuel Lévinas noch glückhaft: »Mit Gagarin wurde endgültig das Privileg der Verwurzelung und des Exils beseitigt.« Seitdem gäbe es keine »Heimat« mehr. Später gab einer der letzten »Mir«-Kosmonauten jedoch zu bedenken: »Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.«

Ähnlich geht es nun den Global Playern und ihren Topmanagern, nur dass sie dies als Befreiung ansehen: »Wir sind keine japanische Firma. Wir sind ein globales Unternehmen, das seinen Sitz nur aus historischen Gründen in Japan hat«, beteuert der Sony-Präsident, und ein BASF-Manager meint: »Wir haben zwar einen gesellschaftlichen Auftrag, weil wir hier unsere Wurzeln haben und weil wir uns – auch – als deutsche Staatsbürger sehen. Aber wir haben den Patriotismus ein bisschen übertrieben.« Der BMW-Chef gab bereits Anfang der 90er Jahre unumwunden zu: »Wir sind gezwungen, unsere betriebswirtschaftlichen Probleme zu Lasten der Volkswirtschaft zu lösen.« Inzwischen transnationalisieren sich selbst schon kleine mittelständische Betriebe, indem sie immer mehr Bereiche in Billiglohnländer verlegen. Robert Kurz nennt das die zunehmende »Gesellschaftsunfähigkeit des Kapitalismus«.

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