Im Gefahrengebiet
Von Andreas HahnAuf dem Spielplatz direkt vor dem Oberhausener Bert-Brecht-Haus, der Volkshochschule, die dem Festival als Gästebüro und Video-Library dient, steht ein Fahrrad. Direkt dahinter hat ein Oberhausener Bürger sein gutes Recht auf die Besetzung des öffentlichen Raumes wahrgenommen und sich ein bequemes Bett bereitet. Plastikpritsche auf Steinbank. Dort lässt man sich nieder, bis der Rausch ausgeschlafen ist.
Die Oberhausener Innenstadt wird doch nicht etwa zu einer dieser »Wohnstätten des weltlosen Menschen« geworden sein, von denen die Frankfurter Soziologin Alexandra Schauer in ihrem Buch »Mensch ohne Welt« spricht? Für den weltlosen Menschen, diagnostiziert sie, habe sich nämlich »die Öffentlichkeit von einem Möglichkeitsraum zu einem Gefahrengebiet gewandelt«.
Besonders gefährlich verwahrlost kam mir dieser Ort nie vor. Aber ich war auch ein paar Jahre nicht mehr hier. Noch vor gut 20 Jahren meinte ich zu erkennen, dass es im Vergnügungsviertel des Ruhrgebiets nichts gäbe, das nicht dem kulturellen und sonstigen Komfort diente. Inzwischen sieht diese Innenstadt so aus, als wäre Komfort plötzlich strafbar geworden. Und nicht unweit von den wirtlichen Steinbänken liegt das Elternhaus von Christoph Schlingensief jetzt mitten im Ganggebiet. Auch das Bert-Brecht-Haus sei nicht von gelegentlichem Vandalismus verschont geblieben, hört man.
Auf dem Festival aber verlangten einige nach Katastrophenschutz nicht für den unmittelbar benachbarten urbanen Raum, der einen solchen inzwischen ganz gut gebrauchen könnte, sondern für die Kulturinstitution selbst, die sich ja einst um »Wege zum Nachbarn« (wie Hilmar Hoffmann, der Gründer der Kurzfilmtage, es genannt hatte) kümmern wollte. Auf der Eröffnungsgala am 1. Mai setzte sich in Form stellenweise quälend redundanter Rede wiederholt das Phantasma eines Angriffs auf Demokratie und Kunst- wie Meinungsfreiheit seitens zumindest an jenem Abend recht unsichtbarer und dennoch unerhörter Feinde in Szene.
Die beschworenen Angriffe blieben vorerst aus. Die vermeintlichen Barbaren blieben zu Hause oder wo der Pfeffer wächst. Und selbst die örtliche Jugendgang rauchte friedlich (aber kräftig) ihr Gras im Schatten der Herz-Jesu-Kirche am Altmarkt. Ein vom Festivalbericht in der Frankfurter Rundschau vom 2. Mai zitierter Oberhausener Polizist sagte es treffend: »Wir hatten hier einfach überhaupt nichts zu tun.«
Auf dem Podium wurde dann ausgerechnet Alexandra Schauer gebeten, ein wenig Hoffnung zu spenden, obwohl ihr Buch doch gerade die Diagnose von der Öffentlichkeit als Gefahrenzone und Verhärtung des Postpolitischen stellt: »Dem technokratischen Staat, der sich bei der Durchsetzung des spätmodernen Gesellschaftsvertrags auf eine alternativlose Logik des Sachzwangs beruft, steht eine postpolitische Öffentlichkeit gegenüber, die den politischen Alltag ab und zu durch Buhrufe stört oder durch Applaus anfeuert, sich aus der aktiven Gestaltung der Welt jedoch weitgehend heraushält.«
Die Demokratie hat sich somit ganz von selbst verlaufen. Aber schon der oft zitierte Kant hatte unmissverständlich klargemacht, dass die Öffentlichkeit eine Sache der Spezialisten ist und die »erforderliche Freiheit« nur für jene gedacht, die das etwas angeht: »Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht« (»Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, 1784). Die ungelehrten Dilettanten wiederum sollen zwar nicht unbedingt die Klappe halten, dürfen sich aber auch nicht aufregen, wenn man ihnen das Aufreißen derselben unter Umständen untersagt. Das ist Aufklärung.
Bei allem Disput der Gelehrten sind die Oberhausener Kurzfilmtage ein Filmfestival ganz ohne Filme dann doch nicht geworden. Es gab sogar preisgekrönte Filme. Nicht wenige. Und nicht nur die attraktivsten kamen freilich aus dem Archiv, etwa in der von Dietrich Leder kuratierten Reihe »Sport im Film. Historische Sportfilme im Fokus«. Die Kargheit und der Ernst der Arbeiten (nicht zuletzt viel Archivarbeit darunter) von Abraham Ravett sorgte für notwendige Konzentration.
Im Festivaltrailer wurden u. a. Kriegs- und Naturbilder mit gewollten Bizarrerien collagiert. Eines davon ist das Bild einer aufrecht sitzenden Kinderleiche in einem Kühlschrank. Es stammt aus dem sudanesischen Beitrag für den internationalen Wettbewerb »Nothing Happens After That« von Ibrahim Omar. Der verstößt gegen das alte Hitchcock-Tabu, gleich zu Beginn eine Kinderleiche zu zeigen. Der Film eröffnet mit dem Schluchzen der trauernden Mutter, wechselt dann aber schnell in den Modus eines seltsam unausbalancierten rabenschwarzen Humors. In einer Wohnung in Kairo telefonieren ein paar Leute mit ominösen Instanzen, sie hätten zwar keine Papiere für die Leiche, bräuchten aber dringend jemanden (eine Institution), die sich darum kümmert. Es ist kein Verantwortlicher aufzutreiben. Sie haben sozusagen ein »Immer Ärger mit Harry«-Problem am Hals, nehmen aber die Sache schließlich selbst in die Hand, räumen den Kühlschrank aus und stellen die Kinderleiche hinein. Die sitzt dann da fotogen wie im Puppenhaus.
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