Kampf um den Taksim
Von Nick BraunsAm Ende beugten die Gewerkschafter sich der Gewalt des Staates: Die linksgerichteten Gewerkschaftsdachverbände der Türkei DISK und KESK erklärten zur Mittagsstunde des 1. Mai, sie würden nicht mehr versuchen, den Taksim-Platz in Istanbul zu erreichen. Die Entscheidung sei getroffen worden, nachdem die Gewerkschafter von der Polizei heftig bedrängt worden seien, erklärte die KESK-Vorsitzende Sevgi Yılmaz: »Wir wurden mit so viel Gewalt konfrontiert, dass wir die Menge nicht mit gutem Gewissen weiter führen können. Eine Fortsetzung des Marsches zum Taksim-Platz würde andere Risiken mit sich bringen«, erklärte sie gegenüber dem Sender Halk TV. Die vor allem unter Kurden verankerte linke Partei der Gleichheit und Demokratie der Völker (DEM) und die sozialistische Arbeiterpartei der Türkei (TİP) kündigten dagegen an, bei den versammelten Arbeitern zu bleiben und weiterhin den Durchgang zum Taksim-Platz zu fordern. »Wir werden nicht eher gehen, bis die Werktätigen gehen«, kündigte der Kovorsitzende der DEM-Partei, Tuncer Bakırhan, laut der Nachrichtenseite Gazete Duvar an.
Die Regierung hat für den 1. Mai in Istanbul 42.000 Polizisten aufgeboten, um zu verhindern, dass Gewerkschafter und Sozialisten zum abgeriegelten Taksim-Platz gelangten. Lange Ketten von Polizisten umstellten eine Parkanlage im Stadtteil Saraçhane, wo sich die Gewerkschafter ab den frühen Morgenstunden für ihren Marsch versammelt hatten. Auch Anhänger der DEM-Partei, feministischer und ökologischer Organisationen waren in einem Demonstrationszug zum Saraçhane-Park gezogen. Dort wurde der Kampftag der Arbeiter in lauten Sprechchören in türkischer und kurdischer Sprache gefeiert. Auch die Parole »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand« wurde skandiert – eine Erinnerung daran, dass vom Taksim-Platz 2013 die landesweiten Proteste gegen die AKP-Regierung des damaligen Ministerpräsidenten und jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ausgingen.
Der Vorsitzende der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Özgür Özel und Istanbuls CHP-Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu liefen untergehackt mit den Gewerkschaftsführern an der Spitze eines Demonstrationszuges in Richtung des Taksim. Doch am antiken Aquädukt des Valens, das als Tor zur Straße auf dem Taksim dient, wurde der Demonstrationszug von einem Großaufgebot gestoppt. Gegen Mitglieder sozialistischer Organisationen, die mit ihren Bannern versuchten, durch die Polizeiketten zu brechen, setzte die Polizei Tränengas und Gummigeschosse ein. In Seitenstraßen rund um den Taksim waren zuvor bereits Aktivisten linker Jugendverbände von der Polizei verprügelt und festgenommen worden. Bis zum frühen Nachmittag seien 205 Personen festgenommen worden, gab die Fortschrifttliche Rechtsanwaltsvereinigung (ÇHD) laut Gazete Duvar an
Für die Arbeiterbewegung der Türkei hat der Platz im Herzen der Metropole besondere symbolische Bedeutung, seitdem dort am 1. Mai 1977 staatliche Kräfte ein Massaker mit Dutzenden Toten unter Hunderttausenden Demonstranten verübt hatten. Nachdem das Verfassungsgericht im vergangenen Jahr eine Verletzung des Versammlungsrechts durch die Sperrung des Platzes festgestellt hatte, riefen DISK, KESK und weitere Gewerkschafts- und Berufsverbände sowie linke Parteien und revolutionäre Organisationen dazu auf, in diesem Jahr wieder auf den Taksim zu ziehen. Doch das Büro des Gouverneurs erklärte am Montag, dass der Platz gesperrt bliebe und nur eine symbolische Delegation von Gewerkschaftern für eine Kranzniederlegung zum Gedenken an die Opfer von 1977 zugelassen werde.
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