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Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Geschichte der SED

Leiden an der Einheitspartei

Die »Exit-Option«: Eine Studie über Otto Buchwitz sucht nach politikfremden Gründen für die Arbeit von Sozialdemokraten in der SED
Von Leo Schwarz
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Otto Buchwitz 1948 im Präsidium des sächsischen Landtages

Fast so lieb wie die erfolgreich popularisierte Erzählung von der »Zwangsvereinigung« von SPD und KPD im Jahre 1946 ist sozialdemokratischen Historikern die Vorstellung, die SED habe – wie schon die KPD zwanzig Jahre zuvor – nach ihrer Gründung den Prozess einer »Stalinisierung« durchlaufen. Der politisch nützliche Effekt dieser Konzeption ist, dass man den offensichtlich als problematisch empfundenen Umstand, dass 1946 sehr viele Sozialdemokraten in die Einheitspartei eingetreten sind, ohne dazu »gezwungen« worden zu sein, dadurch auffangen kann, dass man die Debatte über die Frühgeschichte der SED unter dem Gesichtspunkt der »Ausschaltung« dieser Sozialdemokraten und der »Zerstörung« der »sozialdemokratischen Tradition« führt.

Der Göttinger Politikwissenschaftler Stephan Klecha hat dieses Modell nun auf dem Feld der biographischen Forschung erprobt. Seine Arbeit über den heute weithin vergessenen Otto Buchwitz, der in den frühen Jahren der SED einer der prominenteren Funktionäre aus der alten Sozialdemokratie war, wirkt auf den ersten Blick durchaus überraschend, denn Buchwitz, Jahrgang 1879, war ein ganz entschiedener Verfechter der Einheitspartei. Nach Jahren des Exils in Dänemark und der Zuchthaushaft in Brandenburg wurde der ehemalige Reichstagsabgeordnete 1945 Vorsitzender der SPD in Sachsen und 1946 Kovorsitzender der sächsischen SED. Er war kurze Zeit Kovorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission und langjähriges Mitglied des Parteivorstandes bzw. des Zentralkomitees der SED.

Klecha vertritt die Ansicht, dass Zwang bei der Vereinigung eine entscheidende Rolle spielte, man aber »nicht leugnen« könne, dass »weit mehr als nur Zwang« im Spiel war. Diese seit einigen Jahren zu beobachtende stillschweigende Abwendung der sozialdemokratischen Historiographie von einer komplett eindimensionalen Engführung des Begriffs »Zwangsvereinigung« ist an sich erfreulich. Sie wird aber hier dadurch entwertet, dass Klecha einen Akteur wie Buchwitz vor allem unter dem Gesichtspunkt der »Ausschaltung« von Sozialdemokraten bzw. der »Leidensbereitschaft« von Sozialdemokraten in der SED diskutiert. So wird Buchwitz unter der Hand doch wieder zum Sonderfall: Er steht »treu zur Parteieinheit«, während die »anderen« sächsischen Sozialdemokraten »argwöhnisch von kommunistischer wie sowjetischer Seite beäugt« werden.

Klecha interessiert in erster Linie, wie es kam, dass ein Sozialdemokrat mit den Kommunisten zusammengearbeitet hat. Dass diese Konstellation letztlich politisch nicht legitim ist, gehört unverkennbar zu den unausgesprochenen Prämissen dieses Buches. Bei Klecha wird Buchwitz zu »mehr Distanz« gegenüber der Sozialdemokratie »verleitet«. Er ist der »selbst erklärte Einheitsapostel«. Den (ausbleibenden) Bruch mit der SED nennt der Autor eine »politische Heldentat«, zu der Buchwitz »nicht bereit« war. Und der Verbleib des alten Sozialdemokraten in der SED mündet in dessen höchstpersönliche »Stalinisierung«.

Seite für Seite türmt Klecha Überlegungen zu der ihn quälenden Frage auf, warum Buchwitz nicht die Partei verlassen bzw. in den Westen gehen konnte oder wollte: körperliche Hinfälligkeit, die mit einem »überzeugten Kommunisten« verheiratete Tochter, persönliche Eitelkeit, materielle Abhängigkeit von der Politik, »Gefahren für Leib und Leben im Osten« ohne gleichzeitige Aussicht darauf, von der Schumacher-SPD im Westen mit offenen Armen empfangen zu werden. Buchwitz habe einfach »viel zu verlieren gehabt«. Und ungefähr das habe »auch die anderen sozialdemokratischen Funktionsträger« davon abgehalten, »sich aus der Arbeit in der Partei oder in den staatlichen wie kommunalen Verwaltungsstellen mit Aplomb zurückzuziehen und so der SED den Legitimationsmythos zu zerstören«.

Besonders schief geraten sind Klechas Ausführungen zur Junikrise 1953. Buchwitz warf sich damals entschlossen für die SED in die Bresche, sprach am 17. Juni vor streikenden Arbeitern des Sachsenwerkes in Niedersedlitz und in den Tagen danach in mehreren Betrieben. Intern äußerte er sich – wie sehr viele andere Funktionäre bis hinauf ins Politbüro – kämpferisch und doch sehr kritisch zur politischen Praxis der SED. Das war dem Inhalt nach aber mitnichten eine »Fundamentalkritik« oder gar – aus heiterem Himmel – »Renegatentum«, wie Klecha meint, um sich umgehend wieder der erst durch diese Fehldeutung aufgeworfenen Frage widmen zu können, warum Buchwitz keine »persönlichen Konsequenzen« zog.

Gab es denn auch ehemalige sozialdemokratische Funktionäre, die nicht haufenweise politikfremde Gründe brauchten, um auf Dauer in der SED mitzuarbeiten? Offenbar nicht. So bearbeitet der Autor auch das Problem, das dadurch aufgeworfen wird, dass, wie er einräumt, die Mehrheit der Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone 1946 in die SED gegangen ist. Er ist bemüht, alle möglichen denkbaren nichtpolitischen Gründe ausfindig zu machen, die erklären können, warum die Genossen da mitgemacht haben. Die klare »Exit-Option«, die zum Beispiel Gustav Dahrendorf nutzte, bestand für viele Sozialdemokraten in dieser Form nicht, findet Klecha: »Der Neuaufbau einer Existenz hatte für viele Vorrang vor der Entfaltung der politischen Arbeit.«

Eine eigentliche »politische Arbeit« von Sozialdemokraten, das wird auch an anderen Stellen dieses Buches deutlich, ist für Klecha prinzipiell nur außerhalb der SED vorstellbar. Sozialdemokraten, die in die SED gegangen sind, schiebt er unter, das getan zu haben, um »schlimmstenfalls wenige Jahre durchzuhalten« – bis sich nämlich der »Spuk der Einheitspartei« durch Aufhebung der Besatzungszonen und Wiederherstellung der Einheit Deutschlands von selbst erledigt haben würde. »Nicht wenige« hätten sich so »ohne innerliche Begeisterung, aber in Ermangelung von Alternativen« gefügt. Und dann gab es da natürlich auch noch die »opportunistischen Karrieremöglichkeiten«.

Zum tatsächlichen Inhalt der Politik der SED in den Nachkriegsjahren, zur spezifischen politischen Rolle ehemaliger Sozialdemokraten wie Buchwitz in der Einheitspartei und zum Charakter der innerparteilichen Auseinandersetzungen findet sich in dem Buch kaum eine weiterführende Überlegung. Die SED interessiert Klecha ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der »Ausgrenzung der Sozialdemokraten« und der damit (angeblich) verbundenen Anpassungs- oder Rückzugsstrategien. Immerhin zeigt er so – wenn auch unfreiwillig –, dass dieser Ansatz dem Gegenstand nicht gerecht wird.

Stephan Klecha: Der treue Funktionär. Otto Buchwitz – vom traditionellen Sozialdemokraten zum überzeugten Unterstützer der SED. Dietz, Bonn 2023, 264 Seiten, 29,90 Euro

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