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Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Naziverbrechen

Zwei Wegweiser für eine Gedenkstätte

Die Reflexion der Naziverbrechen in der DDR und heutzutage am Beispiel des KZ Buchenwald. Ein Vergleich
Von Jelena Serpionowa
Die Unterschiede in den Wegweisern durch die Gedenkstätte Buchenwald sind gravierend (links eine russischsprachige Ausgabe von 1967, rechts die deutschsprachige 23. Auflage von 2023)
Besucher spazieren entspannt durch schöne Herbstlandschaften (»Wegweiser durch die Gedenkstätte Buchenwald«, Weimar 2023)
Wegweiser von 2023, 23. Auflage: Ausstellung mit Realienkabinett zum Thema »Depersonalisierung und Uniformierung«
Wegweiser von 1967 – Befreite Häftlinge in Baracke 56 des »Kleinen Lagers«

Es war einmal, in meiner fernen Kindheit, als ich im Bücherregal meiner Eltern ein Büchlein entdeckte. Es war ein Wegweiser durch die Gedenkstätte Buchenwald. Wohl kaum eine Lektüre für Kinder. Dennoch erinnere ich mich gut daran, welch starken Eindruck die Geschichte des heldenhaften Widerstands der KZ-Häftlinge damals auf mich machte. Widerstand der Menschen, die nicht nur an ihr physisches Überleben dachten, sondern mit aller Kraft nach Freiheit strebten und um jeden Preis die entwürdigenden Fesseln der Lagersklaverei zu sprengen versuchten.

Glauben an das Gute

Dieses Erlebnis aus der Kinderzeit geriet nicht in Vergessenheit, sondern hinterließ eine tiefe Spur in meinem gesamten Leben. Ich beschloss, Psychologin zu werden, um die inneren Kräfte ausführlich zu studieren, die uns helfen, in den schwierigsten Situationen über sich hinauszuwachsen, den Glauben an das Gute zu bewahren und Hoffnung zu schöpfen.

Als mir während einer Deutschland-Reise im Jahr 2018 ein neuer Wegweiser durch die Gedenkstätte Buchenwald in die Hände fiel, war ich sehr überrascht. Obwohl er sich in Form und Umfang kaum von seinem »Vorgänger« aus dem Jahr 1967 unterscheidet, ist der gravierende Unterschied in der Akzentsetzung und den modernen Bewertungen der historischen Ereignisse offensichtlich.

Der alte Wegweiser – aus der DDR – ist auf Grundlage der historischen Quellen konzipiert. So findet man darin zum Beispiel einen Hinweis auf den berüchtigten Kommissarbefehl – einen verbrecherischen Befehl der Naziführung mit der Anweisung, Politkommissare der Roten Armee nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern ohne Verhandlung auf der Stelle zu erschießen. Genannt werden nicht nur dessen Verfasser und Unterzeichner, auch unmittelbare Täter, die für die unmenschlichen Greueltaten verantwortlich sind (SS-Einheiten, Wehrmachtsgeneräle u. a.). Der moderne Wegweiser enthält keine Hinweise mehr auf die Beschlüsse und Dokumente der Faschisten, mit denen die Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen begründet und geregelt wurde. Dabei wurden im KZ Buchenwald mehr als 8.000 sowjetische Kriegsgefangene – unsere Mitbürger – brutal ermordet.

Im alten Wegweiser gibt es einen Abschnitt mit dem Titel »Vernichtung durch Arbeit«, in dem es heißt, dass die Nazis die KZ-Häftlinge lediglich als »Verbrauchsmaterial« betrachteten und dementsprechend behandelten (»… sie gnadenlos ausbeuteten – bis zur physischen Vernichtung«). Da steht auch geschrieben, dass die Häftlinge an unterschiedliche Betriebe »vermietet« wurden, als ob es sich um unbelebte Objekte handelte. Es werden konkrete Betriebe und Personen genannt, die von der Zwangsarbeit, also Sklavenarbeit, profitierten und Gewinn erzielten (zum Beispiel Personen im SS-Apparat, dem IG-Farben-Konzern usw.). Zahlreiche Bilder von ausgemergelten und erschöpften Häftlingen zeigen, in welchem katastrophalen gesundheitlichen Zustand sich die rücksichtslos ausgebeuteten Menschen im KZ befanden. Es wird auf das Schicksal der Häftlinge hingewiesen, die nicht mehr arbeitsfähig waren: »Sie wurden alle ins Krematorium geschickt.« Damit wurde die Beteiligung der Großindustrie des »Dritten Reichs« an den Naziverbrechen direkt thematisiert.

Wer trug Verantwortung?

Im modernen Wegweiser bleibt von der ganzen Geschichte nur eine neutrale Überschrift »Deutsche Ausrüstungswerke GmbH« und vier Zeilen mit einem vorsichtigen Hinweis: »Ruinen des ehemaligen SS-Betriebs, in dem KZ-Häftlinge für den Kriegsbedarf arbeiten mussten«. Das ist alles. Keine Informationen darüber, wie diese Betriebe entstanden waren, wie hoch die Sterblichkeit der KZ-Häftlinge war, wer dafür die Verantwortung trug. Kein Wort von Ausbeutung und unmenschlichen Bedingungen. Kein Wort über die Vernichtung durch Arbeit.

Im Abschnitt »Menschen als Versuchstiere« erzählt der alte Wegweiser über grausame Menschenversuche an KZ-Insassen. Die Verfasser zitieren historische Quellen, darunter Dokumente der Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung des Hygiene-Instituts der Waffen-SS, die im KZ Buchenwald eine Versuchsstation einrichtete, und ­Aussagen der ehemaligen Häftlinge während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses. Sie benutzen zwar emotional, aber völlig zu Recht die Bezeichnung »Versuchstiere« – dieser Begriff weist auf die Inhumanität der ­Experimente und den Status der Häftlinge als komplett entrechtete und der Willkür der Täter überlassene Personen hin. Sie berichten unter anderem, dass im KZ Buchenwald Impfstoffe gegen Pocken, Typhus, Paratyphus A und B, Cholera, Fleckfieber, Diphtherie und Gelbfieber an Häftlingen erprobt wurden. All ­diese Informationen machen deutlich und lassen bei den Lesern keinen Zweifel daran, dass die Häftlinge schreckliche Qualen erleiden mussten, damit die nazistischen Forschungseinrichtungen ihre Testergebnisse bekommen konnten.

Leid nachempfinden

Im heutigen Wegweiser wollen die Verfasser die unangenehmen Fakten über diese schrecklichen und inhumanen Menschenversuche den Lesern wohl ersparen. Aus 16 informativen Sätzen wurde ein Satz: »Fleckfieberversuchsstation (1942) – im ehemaligen Block 46 (Versuchsstation des Hygiene-Instituts der Waffen-SS) fanden Versuche an Menschen statt.« Das war’s. Keine Andeutung über den verbrecherischen Charakter der Experimente und das Leiden der Opfer, keine Fotos oder Dokumente.

Der Wegweiser aus dem Jahr 1967 berichtet über »unmenschliche Lebensbedingungen der KZ-Insassen« und bietet dazu detaillierte Informationen, zum Beispiel über Verpflegungssätze – etwa, dass sowjetische Kriegsgefangene im Vergleich zu den anderen reduzierte Rationen erhielten. Auch über das Leben in Baracken: »eine Decke für 3–4 Personen«, »kein Wäschewechsel«, »keine Hygienemöglichkeiten«, »die Gefangenen mussten nasse und dreckige Kleidung tragen«, »Ausbreitung von Infektionen und Epidemien war nicht zu verhindern«. Man findet auch viele Fotos: 20 der 46 Bilder sind Nahaufnahmen, auf denen die ausgemergelten Gesichter und Körper gut zu erkennen sind, so dass man den Schmerz und das Leid der Häftlinge nachempfinden kann.

Friedlich und ruhig

Im heutigen Wegweiser werden eher neutrale und weniger »beängstigende« Formulierungen über das Lagerleben bevorzugt. So zum Beispiel ein Satz über die Häftlingskantine: »… von der SS betrieben, um Unterstützungsgelder von Angehörigen der Häftlinge abzuschöpfen. Angeboten wurde häufig nur minderwertige Ware.« Von Misshandlungen, Folter, Entbehrungen und Not ist in dieser Beschreibung nichts zu finden. Die in der ganzen Welt bekannten schwarzweißen Archivfotos, die damalige Zustände genau wiedergeben, sind im neuen Wegweiser durch Farbfotos der modernen Gedenkstätte ersetzt: Das Buchenwald-Gelände ist heutzutage friedlich und ruhig, da spazieren die Besucher entspannt durch schöne Herbstlandschaften. Abbildungen der Häftlinge fehlen, wie auch Auszüge aus historischen Quellen (Statistiken, Dokumenten, Zeitzeugenberichte), die grausamen Verbrechen werden bloß erwähnt, nicht näher erläutert. Es finden sich im Text keine wertenden Aussagen, die Nazipolitik und Konzentrationslager eindeutig verurteilen würden.

Auch der heldenhafte Widerstand der Häftlinge von Buchenwald findet in diesem Wegweiser keinen Platz. In der DDR-Zeit standen Tapferkeit, Mut und Durchhaltevermögen der antifaschistischen Widerstandskämpfer im Vordergrund. Vielleicht hält die heutige Leitung der Gedenkstätte das Thema für zu pathetisch oder zu prokommunistisch? Aber soll jeder Hinweis auf den tapferen und schweren Kampf dieser Menschen um Freiheit und Menschenwürde nur deshalb verschwinden, weil jemand das Thema in Verbindung mit der »kommunistischen Propaganda« bringen könnte?

Begründete Fragen

Alles hat seinen Preis. Werden Widerstand und Heldentat der KZ-Häftlinge aus dem historischen Gedächtnis über die Konzentrationslager entfernt, so stehen sie lediglich als hilflose Opfer da, die sich passiv der Macht des Bösen unterwarfen, nichts zu sagen hatten und nichts tun konnten. Eine absolute Hilfslosigkeit vor dem Bösen – was soll die heutige Generation daraus lernen? Die im Wegweiser von 1967 abgebildete bekannte Figurengruppe von Fritz Cremer hat mich damals, als Kind, zutiefst erschüttert. Auch heute bleibt das Denkmal ein stiller Appell an die Menschlichkeit in uns allen. Schade, dass das Bild nicht im modernen Wegweiser zu finden ist, wie auch viele andere Dinge, die man in den vergangenen Jahrzehnten vergessen konnte oder auch wollte. Diese von der Gedenkstätte vollzogene Transformation des Geschichtsbildes ruft eine Reihe von begründeten Fragen hervor. Die Antworten auf diese Fragen würden mich als geschichtsbewussten Menschen und auch als Psychologin sehr interessieren.

Jelena Serpionowa ist Dozentin für Psychologie an der Russischen Nationalen Medizinischen Forschungsuniversität »N. I. Pirogow« in Moskau

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  • Leserbrief von Andreas Prange aus geboren in Weimar (4. Mai 2024 um 19:46 Uhr)
    Buchenwald ist das Golgotha Weimars. Ein Ort des Todes und des Neuanfangs. Friedrich Nietzsches Gedanken von der Umwertung aller Werte und dem Willen zur Macht haben sich hier mehrfach erfüllt. Wer wissen will, welche Werte heute gelten, dem sei ein Besuch der Gedenkstätte Buchenwald empfohlen. Das fängt schon auf der Autobahn an. Wer sich Weimar von Westen nähert, erfährt auf einem braunen Hinweisschild, dass die ehemalige Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald heute nur noch eine Gedenkstätte ist. Die von der DDR errichtete Mahnstätte war bei meinem letzten Besuch sehr gepflegt, aber ich hatte den Eindruck, dass man sie heute am liebsten verhüllen würde. Am Lagertor des Konzentrationslagers Buchenwald fragte ich einen Mitarbeiter, wo denn der Bunker sei. Die Antwort war: Hier gibt es keinen Bunker. Der Mann war sehr freundlich, aber wahrscheinlich nicht sehr sachkundig. Vielleicht war er ein schlecht bezahlter Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma. Vielleicht muss sich im Kapitalismus auch ein ehemaliges Konzentrationslager rechnen. Vielleicht haben sich das die Verantwortlichen in der DDR nicht getraut. Beim Gang über das Lagergelände, sind mir junge Menschen aufgefallen, vielleicht eine Schulklasse, die sich meiner Meinung nach an diesem Ort nicht angemessen verhalten haben. Vielleicht kommen sie später einmal in den Genuss von Achtsamkeitsseminaren, deren Anbieter glauben, die Defizite des bundesdeutschen Bildungssystems ausgleichen zu können. Die grausamen Exponate aus der DDR sind heute verschwunden. Laut einer Mitarbeiterin der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora handelt es sich zum Teil um Fälschungen, wie zum Beispiel Lampenschirme aus Menschenhaut. Bei meinem Besuch 2016 waren einige Bilder von Häftlingen zu sehen. Alles wirkte weniger grausam als zu DDR-Zeiten. Vielleicht ist ein Bildungssystem, das nicht mehr erzieht, die Voraussetzung für eine Gedenkstätte, die nicht mehr mahnt.

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