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Aus: Ausgabe vom 27.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Besetzte Gebiete

»Wir können hier zionistische Propaganda verlernen«

Jüdische Aktivisten auf Schutzmission im Westjordanland. Ein Gespräch mit Leah Pearlstein
Von Anne Herbst, Masafer Yatta
4 Masafer Yatta, Anne Herbst.jpg
Eingangstor zur zionistischen Siedlung »Karmel«

Was genau ist Ihre Aufgabe in Masafer Yatta?

Wir üben eine schützende Präsenz durch physische Anwesenheit aus. Ziel ist, das israelische Militär und die Siedler von Aggressionen, Schikanen und Gewalt abzuhalten. Wir begleiten etwa Hirten mit ihren Herden auf ihrem Land, wir verbringen Nächte bei einer palästinensischen Familie, die kürzlich angegriffen wurde. Oder wir leben einfach einige Monate in einem Dorf, weil das vielen Palästinensern ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Diese Solidaritätsaktionen sind nicht ungefährlich, was bewegt Sie dazu?

Es sind meine persönlichen Werte, die von meiner jüdischen Identität geprägt sind und mich dazu gebracht haben, die Welt durch die Linse der sozialen Gerechtigkeit zu betrachten und zu analysieren. Was der Staat Israel seit 75 Jahren im Namen der Juden in aller Welt tut, ist skrupellos. Trotz der generellen Risiken des Aktivismus hier vor Ort weiß ich, dass ich bis zu einem gewissen Grad »geschützt« bin: schlicht aufgrund der Tatsache, »weiße US-amerikanische Jüdin« zu sein. Dieses Privileg nutze ich auch auf Wunsch unserer palästinensischen Partner.

Welche Erfahrungen machen Sie bei Ihrer täglichen Arbeit?

Als wir vor einigen Wochen palästinensische Hirten auf ihr Weideland begleiteten, näherten sich zwei aggressive Siedler. Sie fuhren mit lauten Geländemotorrädern direkt in die Herden hinein und verjagten die Tiere. Daraufhin kamen zwei Soldaten aus der Siedlung und forderten uns auf zu gehen. Ein Schafhirte bat uns, die israelische Polizei zu rufen. Diese war aber nicht in der Lage, unseren Standort zu finden. Schließlich zogen die Siedler und Soldaten ab. Nach mehr als einer Stunde tauchte endlich die Polizei auf. Die Beamten verlangten unsere Pässe und machten Fotos von uns. Solche Vorfälle ereignen sich täglich im gesamten Westjordanland. Die Polizei übernimmt die Darstellung der Siedler, ohne dafür Beweise zu haben. Und die Palästinenser sind der Gefahr ausgesetzt, verhaftet oder verhört zu werden. Siedler werden nur selten festgenommen und bleiben überhaupt straffrei.

Wie reagieren die Siedler auf die Anwesenheit jüdischer Aktivisten?

Sie sind wütend darüber, dass internationale Juden mit den Palästinensern zusammenarbeiten. Unsere Anwesenheit macht es ihnen schwerer, Palästinenser zu drangsalieren, weil wir ihre Verbrechen bezeugen und dokumentieren. Sie nennen uns »Verräter« und »selbsthassende Juden« und behaupten, dass wir das Problem seien – obwohl unsere Solidaritätsarbeit nur eine Reaktion auf die anhaltende Besatzung und die Gewalt der Siedler ist.

Die Ideologie, mit der die Besatzung, der Landraub und die brutale Vertreibung der Palästinenser gerechtfertigt werden, speist sich aus einem Vorwurf: »Antisemitismus«. Haben Sie so etwas aus der palästinensischen Gemeinschaft erlebt?

Nein. Alle, inklusive Juden aus der ganzen Welt, auch Israelis, die die Werte der Palästinenser und ihren gewaltlosen Widerstand im Kampf für Freiheit unterstützen, sind willkommen. Ich habe eine starke persönliche Beziehung zu den Palästinensern und auf wunderschöne Weise Vertrauen aufgebaut. Durch die Anwesenheit hier können wir die zionistische Propaganda und das Misstrauen, zu dem viele von uns erzogen wurden, verlernen.

Die deutsche Regierung setzt lieber auf den Krieg der ultrarechten Netanjahu-Regierung – angeblich »wegen des Holocausts« …

Deutschland ist so verblendet von seiner Schuld, dass es eifrig die israelische Regierung und den Genozid am palästinensischen Volk uneingeschränkt unterstützt. Das führt mich zu der Annahme, dass es mit Völkermord einverstanden ist, solange er von Juden und nicht an Juden begangen wird. Wenn das keine Dissonanz ist, dann weiß ich nicht, was es sonst sein soll.

Leah Pearlstein ist Studentin aus New York und Aktivistin der internationalen Organisation »Center for Jewish Nonviolence« (CJNV)

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