4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Gegründet 1947 Freitag, 3. Mai 2024, Nr. 103
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten 4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Aus: Ausgabe vom 23.04.2024, Seite 5 / Inland
Stuttgart 21

»S 21« brandgefährlich

Kritiker beklagen lebensbedrohliche Versäumnisse bei Sicherheitskonzept des Stuttgarter Bahnprojekts. Rechtsstreit um »gelöschte« Simulation
Von Ralf Wurzbacher
5.jpg
Kritiker sind sich sicher: »S 21« wird nicht in Betrieb gehen

Beim »Aktionsbündnis gegen S 21« ist man sicher: »Kein Zug wird fahren bei Stuttgart 21.« Warum nicht? Weil die Kosten immer weiter aus dem Ruder laufen? Weil der Start sich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinzieht? Das vielleicht auch, aber schwerer wiegt für die Projektgegner die mögliche Gefährdung durch den mangelnden Brandschutz im künftigen Tiefbahnhof und den viele Kilometer langen unterirdischen Zuläufen. Am vergangenen Freitag schlugen sie im Rahmen einer Pressekonferenz Alarm – zum wiederholten Mal. Die Deutsche Bahn (DB) sowie das Eisenbahnbundesamt (EBA) hätten zu keiner Zeit die Vorgaben der Tunnelrichtlinie hinreichend geprüft, wonach im Falle eines Feuerereignisses die »Selbstrettung gewährleistet« sein muss. Deshalb sei eine Inbetriebnahme unter Einhaltung der Brandschutzstandards »ausgeschlossen«.

Nach Ausführungen durch Christoph Engelhardt vom Faktencheckportal Wikireal.org ist bei halbierter Rettungswegbreite und einer Personenkapazität der Züge rund vierfach über dem Üblichen »in so langen Tunneln eine Evakuierung nicht rechtzeitig möglich«. Durch die verengten Querschnitte hole der Rauch die Fliehenden etwa doppelt so schnell ein wie von den Planern angenommen. Der Physiker zog Vergleiche zu ähnlichen Bauwerken im Ausland, die »alle ein um Faktoren höheres Sicherheitsniveau« erreichten, und sprach von einem »Geisterfahrerproblem«: Entweder seien die »S 21«-Tunnel »falsch ausgelegt oder aber alle anderen mehr als 50 internationalen Tunnel«. Die Verantwortlichen beteuern dagegen, der Brandschutz genüge den Anforderungen und sei regelkonform genehmigt. Allerdings könnten die DB und das EBA beispielsweise keine belastbaren Daten zur Dimensionierung der Rettungswege nach der Personenzahl vorlegen, monieren die Kritiker. Dabei wäre das »schon zur Planfeststellung nötig gewesen«.

Die »Ingenieure 22«, eine dem Aktionsbündnis nahestehende Gruppe von Fachleuten unterschiedlichster Disziplinen, pochten vor Gericht über sieben Jahre lang auf die Herausgabe einer Simulation eines Schweizer Planungsbüros im Auftrag der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU). Von der hieß es einst, sie stelle eine Brandkatastrophe im Fildertunnel nach, dem mit neun Kilometern längsten Zulauf zum künftigen Stuttgarter Tiefbahnhof. Dabei sei der Beweis erbracht worden, dass sich alle 1.757 Passagiere eines vollbesetzten Doppelstockzuges unbeschadet und über Querstollen innerhalb von elf Minuten in die Nachbarröhre in Sicherheit retten könnten. Die Sache hat etliche Haken: Heute kalkuliert die Bahn mit bis zu 3.681 Fahrgästen pro Zug, während in vergleichbaren doppelröhrigen Tunneln in anderen Ländern Züge mit im Schnitt 1.000 Fahrgästen verkehren. Außerdem stellte sich während des Rechtsstreits heraus, dass besagtes Computermodell kein »Heiß-«, sondern ein »Kaltereignis« durchspielte. Was fehlte, war ein Feuer und noch viel mehr. Rauch- und Hitzeentwicklung? Mobilitätseingeschränkte Personen? Panikverhalten der Flüchtenden? Nichts davon war Gegenstand der Untersuchung.

Und jetzt das: Vor elf Tagen gab das Verwaltungsgericht Stuttgart einer Klage der Bahn gegen die von der Gegenseite verlangte Zwangsvollstreckung zur Freigabe des Videomaterials statt. Zuvor hatte ein Mitarbeiter der Schweizer Gruner AG erklärt, die Simulation sei schon vor acht Jahren mit DB-Zustimmung gelöscht worden. »Wo nichts mehr ist, kann auch nichts herausgegeben werden«, kommentierte Bündnissprecher Dieter Reicherter, früher selbst Richter, den Entscheid in einer Stellungnahme. Er sei »entsetzt, dass wieder einmal nur formale Tatbestände verfahrensbestimmend waren« und nicht die Frage, »dass mit realistischen Simulationsparametern die Evakuierung eines Zuges in der vorgeschriebenen Zeit nicht gelingt, in der Realität schon gar nicht«.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Der Deckel ist gesprengt: Protestaktion vor dem Staatsministeriu...
    18.12.2012

    Grüne in der Pflicht

    Prominente Aktivisten gegen »Stuttgart 21« fordern Kommunal- und Landespolitiker der Partei zum Ausstieg aus dem Bahnhofsprojekt auf
  • Demonstration gegen »Stuttgart 21« am Montag
    15.11.2011

    Bahn schafft Fakten

    Knapp zwei Wochen vor dem Volksentscheid in Baden-Württemberg über die Finanzierung von »Stuttgart 21« wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen

Regio:

Mehr aus: Inland