4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 23.04.2024, Seite 1 / Inland
Finanzkriminalität

Cum-ex-Chefermittlerin schmeißt hin

Größter Steuerskandal der BRD: Anne Brorhilker kündigt und kritisiert mangelnde staatliche Aufklärung
Von Susanne Knütter
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»Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen«: Anne Brorhilker am Bonner Gericht (4.4.2022)

Im vergangenen Jahr wurde viel darüber berichtet, wie Cum-ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker ausgebremst wird. Nun hat sie hingeschmissen. Die Oberstaatsanwältin habe um ihre Entlassung aus dem Beamtenverhältnis gebeten, sagte ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Köln am Montag. Zu den Gründen äußerte sich die Behörde zwar nicht, dafür Brorhilker selbst im WDR: »Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird. (…) Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.«

Die Politik habe elf Jahre nach Bekanntwerden der ersten Cum-ex-Fälle noch immer nicht hinreichend reagiert. Steuerdiebstähle seien längst nicht gestoppt, es gebe Cum-ex-Nachfolgemodelle. Grund seien fehlende Kontrollen, was bei Banken und auf den Aktienmärkten geschehe. Künftig will sie Finanzkriminelle als Geschäftsführerin des Vereins »Bürgerbewegung Finanzwende« jagen.

In rund 120 Cum-ex-Ermittlungsverfahren wurde unter Brorhilkers Führung gegen 1.700 Beschuldigte ermittelt. Durch den Betrug, der seine Hochphase von 2006 bis 2011 hatte, wurde der deutsche Staat schätzungsweise um einen zweistelligen Milliardenbetrag geprellt. Der Cum-ex-Betrug gilt als größter aufgedeckter Steuerskandal der Bundesrepublik. In ihm scheint auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Rolle gespielt zu haben.

Im September 2020 wurden Auszüge aus beschlagnahmten Tagebüchern des Bankiers Christian Olearius veröffentlicht, aufgrund derer mehrere Privattreffen des damaligen Hamburger Bürgermeisters Scholz mit dem Gesellschafter der Hamburger Warburg-Bank im Zeitraum 2016–2017 bekannt wurden. Gegen Olearius läuft ein Strafprozess wegen besonders schwerer Steuerhinterziehung. Seine Beschwerde gegen die Veröffentlichung der Tagebuchzitate war wegen der besonderen Relevanz gerichtlich abgewiesen worden, am Montag nun auch vom Verfassungsgericht. Wenn der parlamentarische Cum-ex-Untersuchungsausschuss der Hansestadt Hamburg diesen Mittwoch wieder tagt, dürfte dieses Urteil eine Rolle spielen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Oliver S. aus Hundsbach (24. April 2024 um 13:01 Uhr)
    Dass es in diesem Rechtssystem noch Menschen gibt, die sich nicht bedingungslos in den Dienst der herrschenden Klasse stellen und Recht und Gesetz durchsetzen möchten, ist bemerkenswert. Bravo Oberstaatsanwältin Brorhilker! Exemplarisch ist es aber auch, dass während die Bürgergeldempfänger und Rentner jeden Cent zählen müssen, Kriminelle, die Steuergelder in ungekannter Größenordnung klauen, anscheinend von den höchsten »Dienern des Volkes« geschützt werden.
  • Leserbrief von B. S. aus Ammerland (23. April 2024 um 11:43 Uhr)
    Wie heißt es so schön »Parteienherrschaft versus Demokratie« – ein besseres Beispiel kann es gar nicht geben. Dazu die Weisungsbefugnis der jeweiligen Innenminister gegenüber den Staatsanwaltschaften: fertig ist das Deutsche Rechtssystem. Genau, System – das trifft den Kern! Was Frau Brorhilker zum Rücktritt gezwungen hat, ist bereits unter dem »Bruder im Geiste«, Helmut Kohl, geschehen. Auch damals wurden die Leute, die ihren Job machten, diskreditiert, politisch verfolgt, teilweise als psychisch krank abgestempelt und aus ihrem Job komplimentiert. Sollte Olaf Scholz glauben, mit Brorhilkers Ende sei er aus dem »Schneider«, dann ist er noch naiver als vermutet. Diese Regierung, mit so einem Kanzler, ist schon eine Zumutung. Hoffentlich wird in den nächsten Landtagswahlen, der eine und die andere auf der Strecke bleiben, d. h. nicht wieder gewählt werden.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Hermann T. aus 29451 Dannenberg/E. (23. April 2024 um 01:08 Uhr)
    Viel mehr als ein Rücktritt: Die Demission (besser: Resignation) der Frau Brorhilker ist aus meiner Sicht eine Ohrfeige erster Klasse für den vorgeblichen »Rechtsstaat« und seinen normativen Anspruch auf geteilte Gewalten entsprechend Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung in der demokratischen Republik. »Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.« Exekutive und Legislative, hier v. a. der nordrhein-westfäl. Justizminister Dr. B. Limbach (B 90/Grüne) und die hinter der Koalition stehenden Fraktionen von CDU und Grünen waren allem Anschein nach erfolgreich mit ihrer Zermürbungsstrategie gegenüber einer unerschrockenen und offensichtlich nicht korrumpierbaren Staatsanwältin. Respekt für Frau Brorhilker und »Glück auf!« für »Finanzwende«!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer D. aus 36456 Barchfeld/ Werra , Liebensteiner Str. 114 (22. April 2024 um 21:34 Uhr)
    Ich ziehe den sprichwörtlichen Hut vor dieser Entscheidung von Frau Oberstaatsanwältin Brorhilker. Diese Juristin zeigt eine außerordentliche Charakterstärke, indem sie gleichzeitig ihre Motive für das Verlassen des Justizdienstes schonungslos und aufrichtig verkündet. Für die zuständigen Politiker an der Spitze des deutschen Rechtsstaates, sowohl in der Gegenwart als auch in den letzten beiden Jahrzehnten, ist dieser Rücktritt der Chefermittlerin eine gewaltige moralische wie politische Herausforderung. Aber auch alle Abgeordneten im Deutschen Bundestag müssen betroffen und herausgefordert sein! Frau Brorhilker ist gegangen mit der erschütternden Erkenntnis: »Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.« Was wird nach diesem vernichtenden Moralurteil und dem Rücktritt erfolgen?! Rainer Döhrer, 36456 Barchfeld/ Werra
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (22. April 2024 um 19:57 Uhr)
    Dagegen erscheint der »Flick-Skandal« wie ein »Eierdiebstahl« und die »Schwarze Parteikasse« Helmut Kohls betragsmäßig wie eine bescheidene Kollekte von »Peanuts«.

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