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Aus: Ausgabe vom 19.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Ich und wir

Jenseits des Kapitalismus: Jakob Schäfers Science-Fiction-Roman »Mellopolis ’48«
Von Helmut Dahmer
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Schöne Utopie: Darstellung eines landwirtschaftlichen Projektes von Claude-Nicolas Ledoux (1763–1806)

»Eindimensional« geworden, hat sich die kapitalistisch organisierte (Welt-)Gesellschaft absolut gesetzt und erscheint vielen Zeitgenossen als »alternativlos«. Die klassischen Dystopien des vorigen Jahrhunderts (Samjatin, Huxley und Orwell) schrieben ihre Gegenwart negativ fort. Auf exotischen Inseln lokalisierte Utopien hingegen, wo Menschen ein unbekanntes, aber besseres Leben führen (ob auf Tahiti, ob im Trobriand-Archipel), sind uns inzwischen abhandengekommen. Dem sucht Jakob Schäfer mit seinem Roman »Mellopolis ’48« abzuhelfen. Er führt auf eine Zeitreise in eine autarke Stadtkommune der nicht allzu fernen Zukunft, die den Kapitalismus bereits hinter sich gelassen hat und deren Bezug zur Weltwirtschaft, sofern es eine solche noch gibt, unklar bleibt. Der aus der Gegenwart angereiste Berichterstatter hatte Mühe, sich in dem Utopia zurechtzufinden, und Verständnisfragen, die seine Leser sich stellen – vor allem solche nach Ökonomie und Technik der räteverfassten Stadtgemeinde –, gehen oft ins Leere. Wie in allen Reiseberichten über ferne Länder, fremde Völker und unbekannte Zukünfte ist es für Zeitgenossen schwierig, Wünsche und Träume von Einheimischen, Beobachtungen und Informationen von Reisenden sowie die Vorurteile, Projektionen und Fabeleien der Ethnologen auseinander zu halten. Darum ist es hilfreich, wenn im zweiten Teil des Buches der Autor die Rolle des Reisereporters aufgibt und auf die ihn leitenden »politisch-philosophischen Grundlagen« zu sprechen kommt.

Große Umwälzung

Die Gründung von Mellopolis war nur im Gefolge der großen gesellschaftlichen Umwälzung möglich, die vor wenigen Jahrzehnten stattgefunden hat (und über die der Leser nichts Näheres erfährt). Jene »Umwälzung« galt der Abschaffung beziehungsweise Reduktion einer Reihe von Institutionen, Produktionen und Praktiken, wodurch die Entwicklung einer neuen Lebensweise jenseits der Konkurrenz aller gegen alle möglich wurde. Sämtliche Neuerungen dienen der Reduktion der notwendigen Arbeitszeit und dem Kampf gegen die Erderwärmung. Arbeitsteilung und Klassenspaltung sind samt Armut und Arbeitslosigkeit abgeschafft. Eine Subsistenzwirtschaft mit weitgehender Reduktion des Einsatzes von Maschinen und Energie hat die Waren- und Exportproduktion abgelöst; es gibt kein Geld mehr, Güter und Dienstleistungen werden – soweit sie als »Grundbedürfnisse« gelten –, gratis verteilt. Nur Sonderwünsche werden mit Arbeitszeitgutscheinen bezahlt. Die materielle Produktion wurde zurückgefahren (»degrowth«), »unnütze« und schädliche Produkte werden nicht mehr hergestellt. Private Automobile gibt es nicht mehr, der Personenverkehr wird überhaupt möglichst eingeschränkt. Das Territorium der Stadt wird sukzessiv verkleinert, im Umland soll es wieder »Urwälder« geben. Landwirtschaft (inklusiv »urban gardening« und »Verwaldung« der Stadt) wird von allen – und zwar vorwiegend in Handarbeit – betrieben. Mehrfamilien- bzw. Mehrgenerationenhäuser mit Gemeinschaftsküchen und Kleingruppenkitas sind die bevorzugte Wohnform. Wichtiger als Symptombekämpfung und Krankenversorgung ist die Vorsorge – eine umfassende »Saluto-Genese«. Alle Stadtbewohner verfügen über Grundkenntnisse in Handwerk und Pflege. Leitbild ist der (spielerisch) »produktive« Mensch. Die notwendige Arbeit soll durch Rotation, die der Spezialisierung entgegenwirkt, »lustvoll« werden, also dem Abwechslungstrieb (Fouriers »papillon« oder »alternante«) Rechnung tragen. Parteien bilden sich um alternative, darunter auch »veraltete«, Interessen und Projekte und werben um Mehrheiten in den lokalen, regionalen und Landesräten. Dezentralisierung ist Trumpf, als Regel gilt: Soviel lokale und regionale Selbstverwaltung wie möglich, so wenig Entscheidungen zentraler, also Landesgremien, wie nötig.

Schäfers »Vision« einer nachkapitalistischen Rätekommune erinnert sowohl an Karl Korschs vor 100 Jahren entwickelte Konzeption einer »Industriellen Autonomie«, als auch an Charles Fouriers vor 200 Jahren erdachte Wohn- und Produktionsgenossenschaft (»Phalanstère«). Hatte Fourier sich besonders mit der architektonischen Planung seiner Mustersiedlungen befasst, so beschreibt Schäfer uns die Zeiteinteilung der Mellopoliten: Monatlich sind für alle arbeitsfähigen Bewohner 90 Stunden Arbeit »für Allgemeinaufgaben der Gesamtbevölkerung« verpflichtend. Im Durchschnitt wird wöchentlich 20 Stunden gearbeitet, täglich bleiben pro Kopf mindestens zehn Stunden arbeitsfrei, davon ein bis zwei für politische Diskussionen. Der Rest steht für Sport, Kultur und Hobbies zur Verfügung. Die Arbeitsproduktivität ist – trotz resoluter Material- und Energieeinsparungen – derart gestiegen, dass künftig auch weitere Arbeitszeitverkürzungen möglich scheinen.

Da die (seit Platon) entworfenen und von Anhängern der Utopisten und Propheten gegründeten Musterkolonien »für alle passend« sein sollten, bedurfte es über kurz oder lang immer auch des Zwangs. Und so lauert in den bestausgedachten Utopien die Dystopie. Hunderte von Musterkolonien, die seit den Tagen Fouriers in der alten und in der neuen Welt gegründet worden sind, gaben nicht den Anstoß zum Übergang zu einer weltweit neuen, besseren Lebensform, sondern verfielen nach kurzer Zeit. Friedrich Engels nannte Fourier einen Satiriker, doch auch nicht wenige utopische Entwürfe und Verfassungen frühsozialistischer Kolonien lesen sich heute, als seien sie deren Satiren. Das Neue an der Konzeption von »Mellopolis« ist, dass deren Bewohner nicht nur entschlossen scheinen, alles zu tun, um den drohenden Klimawandel aufzuhalten, sondern dass sie zumindest in ihrer Stadt und im Verbund ähnlicher Kommunen auch eine reale Möglichkeit dazu haben.

Möglicher Rückfall

»Die Utopie überspringt die Zeit«, schrieb Max Horkheimer. »Aus den Sehnsüchten, die durch eine bestimmte Lage der Gesellschaft bedingt sind und bei einer Veränderung der jeweiligen Gegenwart sich mitverändern, will sie mit in der Gegenwart vorgefundenen Mitteln eine vollendete Gesellschaft errichten: das Schlaraffenland einer zeitbedingten Phantasie.« Für die Utopisten »ist die Änderung des Bestehenden (…) in den Kopf der Subjekte verlegt«. In »Mellopolis« geht die Angst vor einem »Rückfall in alte Verhaltensmuster aus der Konkurrenzgesellschaft« um. So erscheint der Kampf um Progression oder Regression vor allem auch als einer gegen »falsche« und für »richtige« Menschenbilder. Als »eine wesentliche Errungenschaft der Revolution« gilt nämlich die langfristige Bemühung um eine »Umstellung vom Subjekt auf das Kollektiv«. Dafür sollen – auch durch die Einschränkung des Verkehrs – vor allem »das kollektive Denken und Lernen« und die »Gemeinsamkeit« im Viertel befördert werden.

Diese Option für den antiindividualistischen Kollektivismus bezeichnet im Denken der Mellopoliten den Punkt, an dem ihre Angst vor dem Rückfall in »veraltete« Lebensweisen sie geradewegs einem solchen Rückfall zutreibt. Mit der Abschaffung von Privateigentum und Staat scheint auch die Erinnerung an das barbarische 20. Jahrhundert verloren gegangen zu sein, in dem die großen, menschenverschlingenden Regime im Namen des Kollektivismus den Individualismus und die Individualisten mit Hilfe von »massenfeindlichen Massenbewegungen« auszurotten suchten. Marx und Engels aber wollten mitnichten die neuzeitliche Emanzipation »vereinzelter Einzelner« rückgängig machen – also eine Rückkehr zu Gruppen-Ich und Clangewissen. Sie wollten vielmehr die »Klassenindividuen« der kapitalistischen Gesellschaft auch von dieser »sachlichen Abhängigkeit« befreit wissen: »Freie Individualität« auf der Grundlage der Unterordnung ihrer gesellschaftlichen Produktivität (statt ihrer Unterordnung unter das Kollektiv) galt ihnen als Ziel der menschlichen Geschichte, das durch Überwindung der Klassengesellschaft erreicht werden könne.

Sagen wir es mit den Worten des russischen Dichters der Revolutionszeit Jewgeni Samjatin, dem wir den 1920 geschriebenen dystopischen Roman »Wir« verdanken: »Die Welt lebt nur durch Häretiker (…). Wir haben die Epoche der Unterdrückung der Massen erlebt; wir erleben heute die Unterdrückung des Einzelnen im Namen der Massen; das Morgen wird die Befreiung des Einzelnen im Namen des Menschen bringen.«

Jakob Schäfer: Mellopolis ’48. Eine Reportage. new academic press, Wien 2023, 125 Seiten, 12,90 Euro

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