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Aus: Ausgabe vom 19.04.2024, Seite 4 / Inland
Justiz und DDR

Viele Fragen offen

Berlin: Prozess gegen ehemaligen MfS-Mitarbeiter fortgesetzt. Arzt sagt aus
Von Nico Popp
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Die Friedrichstraße und der gleichnamige Bahnhof im März 1972

Am 29. März 1974 wurde der Pole Czesław Kukuczka im Bereich der Grenzübergangsstelle am Berliner Bahnhof Friedrichstraße niedergeschossen und starb infolge starken Blutverlustes noch am selben Tag im Haftkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Das zumindest steht nach nunmehr drei Verhandlungstagen im Prozess gegen einen ehemaligen MfS-Mitarbeiter, dem die Staatsanwaltschaft heimtückischen Mord vorwirft, fest. Viel mehr aber auch nicht.

Bislang wurde – zumindest im Saal des Berliner Landgerichts – nichts auf den Tisch gelegt, was zweifelsfrei belegen würde, dass der heute 80jährige Manfred N., der den Tatvorwurf bestreitet, der Schütze ist. Es fehlt vorläufig auch an beweiskräftigen Anhaltspunkten dafür, dass die Konstruktion der Staatsanwaltschaft tragfähig ist, es handele sich hier um einen heimtückischen Mord, weil Kukuczka – der unmittelbar zuvor in der polnischen Botschaft eine Sprengstoffexplosion angedroht hatte, um seine Ausreise nach Westberlin zu erzwingen – im Augenblick der Schussabgabe arglos gewesen sei. Im Grunde ist auch kein Tötungsvorsatz belegt. Nicht vertieft thematisiert wurde bisher auch, was davon zu halten ist, dass in den Fallakten des MfS steht, Kukuczka habe »plötzlich aus seiner Manteltasche eine Pistole« gezogen.

Am Donnerstag hat das Gericht zwei weitere Personen befragt. Der kommissarische Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité, Lars Oesterhelweg, der das 1974 angefertigte Obduktionsprotokoll ausgewertet hat, bekundete, dass alles dafür spreche, dass der Schuss von hinten abgegeben wurde. Das Projektil trat demnach auf der Bauchseite wieder aus, nachdem es Lunge, Zwerchfell, Milz, Magen und Leber verletzt hatte. Bei der operativen Versorgung sei der Tod eingetreten – mutmaßlich verblutete Kukuczka infolge der Organverletzungen. Zu den Überlebenschancen befragt, erklärte Oesterhelweg das Verletzungsbild für »sehr ungünstig«.

Nach ihm trat der 83jährige Herr S., 1974 Hauptmann und Arzt im »medizinischen Stützpunkt der Hauptabteilung VI« des MfS, in den Zeugenstand. Wie Manfred N. und der vor zwei Wochen befragte ehemalige Kraftfahrer T. stand S. auf der Liste mit Auszeichnungsvorschlägen vom Mai 1974. Auch ihn begrüßte der Vorsitzende Richter, Bernd Miczajka, mit der Mitteilung, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei. Und wie schon T. entschied sich S. achselzuckend dafür, alle Fragen zu beantworten.

Wichtig werden könnte ein Detail: S. schien sich sicher zu sein, dass er an jenem Märztag zu einem Zeitpunkt alarmiert wurde, als die Person, die er dann zusammen mit T. im Krankenwagen zum Haftkrankenhaus Hohenschönhausen gefahren hat, bereits angeschossen worden war. Er wurde demnach per Telefon aus dem »Sekretariat des Chefs der Hauptabteilung VI« angewiesen, sofort zum Bahnhof Friedrichstraße zu fahren und dort einen Verletzten aufzunehmen. Dafür musste er seine Sprechstunde unterbrechen und wartende Patienten zurücklassen. Am Bahnhof wurde ihm die verletzte Person unmittelbar nach der Ankunft auf einer Trage übergeben. Die Aussage widerspricht der Annahme, dass der Krankenwagen schon am Bahnhof wartete oder auf dem Weg dorthin war, als der Schuss fiel. Das könnte darauf hindeuten, dass der »Hausherr« an der Grenzübergangsstelle, die Hauptabteilung VI, keinen Schusswaffengebrauch vorbereitet hatte.

S. gab an, den Zustand des ihm übergebenen Patienten nicht für besonders bedenklich gehalten zu haben. Die Vitalfunktionen seien »in Ordnung« gewesen, der Mann habe das Bewusstsein während der Fahrt nicht verloren. Ob er Sauerstoff oder Schmerzmittel verabreicht habe, könne er nicht mehr sagen. S. erklärte mit Nachdruck, dass er, wenn er von Lebensgefahr ausgegangen wäre, der Anweisung, den Verletzten nach Hohenschönhausen zu bringen, widersprochen und den Mann in die Charité oder das Polizeikrankenhaus im Bezirk Mitte gebracht hätte. Anfang Mai wird der Prozess fortgesetzt.

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