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Aus: Ausgabe vom 19.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Nicaragua vs. Deutschland

Champion des Völkerrechts

Nicaragua ist vor dem Internationalen Gerichtshof kein unbeschriebenes Blatt. Der Ankläger Deutschlands hat schon eine Supermacht besiegt
Von Dominik Wetzel
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Hat seine Hausaufgaben gemacht: Der nicaraguanische Exjustizminister Carlos Argüello Gómez (l.) am 8. April in Den Haag

Deutschland muss sich derzeit vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) der Anklage Nicaraguas stellen, Israel bei einem Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen zu unterstützen. Es ist das zweite Verfahren vor dem Haager UN-Gericht zum Gazakrieg. Im Dezember hatte Südafrika gegen Israel wegen Bruchs der Völkermordkonvention Klage eingereicht. Der »Weltgerichtshof« hatte diese im Januar als »plausibel« angenommen. Bis zu einer Entscheidung kann es noch Jahre dauern. Während Deutschland die erhobenen Vorwürfe als »haltlos« zurückweist, appelliert die Regierung Nicaraguas an die selbstauferlegte Verpflichtung aller Unterzeichner der Genozidkonvention, einen Völkermord zu verhindern.

Die USA und Deutschland sind die Hauptunterstützer Israels und des Kriegs der dortigen Regierung gegen die Palästinenser. Deutschland ist nach den USA Israels zweitwichtigste Waffenzulieferer. Dementsprechend hätte es nähergelegen, die USA vor dem IGH anzuklagen, doch die Supermacht erkennt Urteile des Gerichtshofs nicht mehr an. Nachdem Deutschland bei Südafrikas Klage als erster Staat herbeigeeilt war, um Israel vor dem IGH zu unterstützen, ist es nur folgerichtig, dass sich Nicaragua nun Deutschlands mutmaßlicher Mittäterschaft annimmt.

Nun ist die sandinistische Regierung Nicaraguas nicht irgendwer in der Geschichte des IGH. Denn Grund dafür, dass sich die USA dem Internationalen Gerichtshofs entzogen haben, ist Nicaragua. Genauer gesagt, Carlos Argüello Gómez. Der ehemalige Justizminister Nicaraguas und Botschafter für die Niederlande hatte erfolgreich die USA verklagt. Deutschlands Gegner vor Gericht ist also der einzige Staat, dem es gelungen ist, die USA erfolgreich vor dem IGH anzuklagen und wegen des Verbrechens der Aggression für eine Verurteilung zu sorgen.

Am 27. Juni 1986 urteilte das Gericht und stellte fest, dass die USA das Völkerrecht gebrochen hatten. Die Regierung Ronald Reagans hatte die 1980er Jahre hindurch über den Auslandsgeheimdienst CIA als »Contras« berüchtigt gewordene Gruppen wie die FDN und Arde dabei unterstützt, nicaraguanische Häfen zu verminen und Ölinfrastruktur anzugreifen. Von US-Seite wurden die ultrarechten Milizen am Boden mit Helikopterflügen unterstützt. Nachdem der IGH die USA zu Reparationen verurteilt hatte, reagierte Washington damit, sich aus der Jurisdiktion des Gerichts zu verabschieden. Der IGH kann nun nicht mehr über die USA entscheiden. Nicaragua fordert von den USA seitdem 17 Milliarden US-Dollar an Reparationen, die bisher nicht entrichtet wurden.

Gómez betonte im Interview mit dem US-Medium The Grayzone, dass Nicaragua deutlich mehr Erfahrung mit dem IGH habe als Deutschland. Der lateinamerikanische Staat sei mehr als doppelt so oft im Gerichtssaal vertreten gewesen als die BRD, so Gómez. Dass der Völkermordvorwurf gegen Israel als »plausibel« angenommen wurde, beinhalte, dass Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht vorlägen. Da Israel sich lediglich der Völkermordkonvention unterworfen habe, sei das einzige Verbrechen, dessen es angeklagt werden könne, Völkermord. Da Deutschland verpflichtet sei, Völkerrechtsverstöße zu unterbinden, liege hier ein juristischer Hebel, dem Krieg in Gaza ein Ende zu setzen. Die BRD ist durch Artikel 26 ihres Grundgesetzes gebunden, das »friedliche Zusammenleben der Völker« nicht zu stören.

In dem am 1. März eingereichten 43seitigen Antrag wirft Nicaragua Deutschland vor, durch seine politische, finanzielle und insbesondere militärische Unterstützung Israels sowie mit dem Zahlungsstopp an das UN-Palästinahilfswerk (UNRWA) Beihilfe zu einem »Genozid« in Gaza zu leisten. Bis zu einer endgültigen Entscheidung des Gerichts im Hauptsacheverfahren fordert Nicaragua die Verhängung von Sofortmaßnahmen, darunter einen unmittelbaren Stopp von Waffenlieferungen. Ein diesbezügliches Urteil, das völkerrechtlich bindend ist, wird in wenigen Tagen erwartet.

Hintergrund: Überbringer der Wahrheit

Die Journalisten Brian Barger und Robert Parry hatten bereits im Dezember 1985 für die Nachrichtenagentur Associated Press berichtet, dass die Contras für ihren Krieg gegen die Sandinista-Regierung Waffenlieferungen sowie einen Hubschrauber im Wert von insgesamt 250.000 US-Dollar mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Kokain bezahlt hatten.

Dennoch dauerte es etwa zehn Jahre, bis der Reporter Gary Webb im August 1996 bei San Jose Mercury News eine dreiteilige Serie unter dem Titel »Dark Alliance« (»Dunkle Verbindung«) abdruckte, in der enthüllt wurde, wie Exilanten aus Nicaragua in den 1980er Jahren Kokain nach Kalifornien importierten, die Region um Los Angeles versorgten und die Millionengewinne zur Finanzierung der von der CIA gesteuerten Contra-Armee in Nicaragua benutzten. Es wurde deutlich, dass der Geheimdienst aktiv weggesehen hatte, woher das Geld zur Finanzierung der Armee kam.

Der Bericht des Pulitzer-Preisträgers Webb erreichte Millionen von Menschen, da es sich um eine der ersten Investigativrecherchen handelte, die online zugänglich waren und die materiellen Begrenzungen einer Printzeitung durchbrachen.

Die CIA wies die Vorwürfe energisch zurück. Die Washington Post, die New York Times und die Los Angeles Times, die über Jahre Beweise für die Verwicklung der CIA in den Drogenhandel ignoriert oder heruntergespielt hatten, griffen die Berichte an. Der Chefredakteur der Mercury News, Jerome Ceppos, erklärte schließlich, die Serie entspreche nicht seinen Standards. Die Geschichte wurde endgültig zurückgezogen. Webb verteidigte jedoch seine Berichterstattung und veröffentlichte seine »Dunkle Verbindung« 1998 detaillierter in Buchform.

Am 10. Dezember 2004 wurde der Journalist tot in seiner Wohnung aufgefunden. Dass der Fall als Selbstmord eingestuft wurde, obwohl Webb mit zwei Kopfschusswunden aufgefunden worden sein soll, sorgt bis heute für Spekulationen. Robert Perry, der bereits 1985 über den Drogenhandel der Contras berichtet hatte, gründete später das Onlinemedium Consortium News. (dw)

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  • Leserbrief von Rumpliert (20. April 2024 um 15:42 Uhr)
    CIA/USA waren Contras Unterstützer. Wer kann was dazu sagen, wie sich die BRD und die DDR positioniert haben und wen unterstützt haben?
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (19. April 2024 um 10:42 Uhr)
    Nicaragua ist in der Tat vor dem Internationalen Gerichtshof kein unbeschriebenes Blatt, Stichwort: Essequibo und die diesbezüglichen Differenzen mit Guayana. Guyana hatte 2018 diesen Fall dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Am 30. Juni 2020 wurde der Fall mündlich verhandelt. Venezuela boykottierte die Verhandlung (https://de.wikipedia.org/wiki/Guayana). Womöglich wird sich dieser »Champion des Völkerrechts« (siehe Überschrift) das fragliche Gebiet mit militärischen Mitteln holen wollen, wenn Guayana nicht nachgibt. Denn leider ist inzwischen das Prinzip, Grenzstreitigkeiten nur friedlich zu lösen, durch Russlands Krieg gegen die Ukraine entwertet worden.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (24. April 2024 um 21:27 Uhr)
      Der Artikel handelt von Nikaragua, die von Ihnen angesprochenen Probleme mit der Provinz Essequibo betreffen aber Venezuela! Und schon 1999 entwerte die NATO in Jugoslawien-Kosovo dieses hehre Prinzip – und die Kolonialmächte USA, GB und Frankreich tun dies seit Jahrhunderten.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Matthias O. aus Wien (20. April 2024 um 00:01 Uhr)
      Die Entwertung hatte bereits viel früher stattgefunden: »Er selbst habe als Kanzler beim Jugoslawienkonflikt ebenfalls gegen das Völkerrecht verstoßen. ›Da haben wir unsere Flugzeuge (…) nach Serbien geschickt, und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.‹ Insofern sei er mit dem erhobenen Zeigefinger vorsichtig, betonte Schröder.« https://www.merkur.de/politik/krim-krise-altkanzler-schroeder-kritisiert-ukraine-politik-zr-3405895.html
    • Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (19. April 2024 um 17:39 Uhr)
      Den Blumenstrauß zur nicht ganz friedlichen Verschiebung von Grenzen kann Moskau bescheiden an Washington weiterreichen: Die NATO (also die USA) haben 1999 in Jugoslawien die Blaupause geliefert. Seitdem spielt der Kosovo-Landstrich Staatsgebilde …

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