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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Folgen der Kürzungspolitik

Massen gegen Mitsotakis

Generalstreik in Griechenland für ein »Überleben in Würde« und gegen Wirtschaftsprogramm der Regierung. Kaufkraft unter dem Niveau von 2010
Von Hansgeorg Hermann, Chania
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Tausende Griechen haben am Mittwoch in Athen gegen schlechte Löhne und explodierende Preise demonstriert

Tausende griechische Beschäftigte sind am Mittwoch für ein »würdiges Überleben« in einer für die große Bevölkerungsmehrheit »untragbar« gewordenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Situation auf die Straße gegangen. Dem Streikaufruf der Gewerkschaften, der Studenten- und Lehrerverbände sowie der linken Oppositionsparteien folgten am Vormittag auch Rentner und Schüler sowie die meisten Lohnabhängigen der öffentlichen Dienste, Büroangestellte der Ministerien eingeschlossen. Der Protest richtete sich vor allem gegen das knochenharte neoliberale Wirtschaftsprogramm und die Arbeitsmarktpolitik der Regierung des rechten Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis. Der Mindestlohn von monatlich 706 Euro sei »lächerlich« angesichts explodierender Preise für Grundnahrungsmittel, Energie und medizinische Versorgung, hieß es in Gewerkschaftserklärungen.

Die linke Partei MERA 25 des früheren Finanzministers Yanis Varoufakis wies darauf hin, dass die Kaufkraft des derzeitigen Einkommens der griechischen Beschäftigten im Durchschnitt 27 Prozent unter der des Jahres 2010 liege. Was die Inflationsrate bei den Kosten für Nahrungsmittel betreffe, habe sich das Land auf einem der miesesten weltweiten Listenplätze noch »hinter der Türkei, Ungarn und Nordkorea« eingereiht. Kommentatoren der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik des Regierungschefs waren sich in den vergangenen Wochen sicher, dass die täglichen Lebenshaltungskosten der elf Millionen Griechen nicht nur »das wichtigste politische Thema« der im Juni bevorstehenden EU-Wahl sein würden, sondern die Folgen der Preissteigerungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer rekordverdächtigen Wahlverweigerung führen dürften. Politische Seismologen warteten auf einen »Tsunami« des Protests, schrieb die Athener Tageszeitung Efimerida ton Syntakton (Efsyn), und einen erneut anwachsenden Vertrauensverlust für die repräsentative Demokratie.

Griechenland leidet seit dem von Brüssel, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Wirtschaftsfonds 2010 verordneten katastrophalen Kürzungskurs unter einem dramatischen Kaufkraftverlust – Löhne und Renten wurden um bis zu 50 Prozent gekürzt – und dem Braindrain von mehr als 500.000 jungen, gut ausgebildeten Menschen, die in den vergangenen 14 Jahren das Land verlassen haben. Am Protest, der am Mittwoch mit einem »Marsch der Massen« vor das griechische Parlament am Syntagma-Platz zog, beteiligten sich auch Hunderte Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenschwestern und Pfleger, die eine generelle, »nennenswerte« Aufbesserung ihrer Gehälter verlangten. Unter der Sozialpolitik Mitsotakis’ litten nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Patienten, die zum Teil ohne Krankenversicherung auskommen müssten und sich bei geringem Einkommen keine Medikamente mehr leisten könnten.

Nicht nur in Athen, sondern auch in der nordgriechischen Metropole Thessaloniki sowie in den großen Universitätsstädten Heraklion (Kreta) und Patras kam es am Vormittag zu gewerkschaftlich organisierten Massenkundgebungen mit mehreren tausend Teilnehmern. Bestreikt wurden zeitweise auch die wichtigen Fährverbindungen zu den Inseln und der öffentliche Nahverkehr der Hauptstadt. Ob die Regierung sich allerdings auf einen ernsthaften Dialog mit den protestierenden Griechen und den Organisatoren des Streiks einlassen werde, bezweifelten nicht nur Linksoppositionelle und Gewerkschaftsverbände. Efsyn vermutete in ihrem Onlinedienst, Mitsotakis und seine von Wirtschaftslobbyisten durchsetzte rechtsnationale Partei Nea Dimokratia (ND) seien – mit einer absoluten Parlamentsmehrheit im Rücken – aller Voraussicht nach »nicht willens«, auch nur ein Jota von ihrem Regierungsprogramm abzuweichen.

Die linke politische Opposition, die am Mittwoch versuchte, sich in den Protest zu integrieren und von ihm zu profitieren, hat in Griechenland seit Monaten ihre Stimme und den größten Teil des Vertrauens der Wählerschaft verloren. Sie sieht im Juni, wie Demoskopen vermuten, einem neuen Stimmenverlust und einem weiteren Abstieg und einer zumindest zeitweisen weitestgehenden politischen Bedeutungslosigkeit entgegen.

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