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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 6 / Ausland
Free Assange!

»Unverhohlene Worthülsen«

Keine Berufung auf Pressefreiheit: US-Zusicherungen im Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange behaupten vermeintliches Recht
Von Ina Sembdner
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Protest während der Anhörung in London am 20. Februar. Aber auch in Wien wird für die Freiheit von Julian Assange gekämpft

Drei Wochen Zeit hatten die USA und drei Wochen Zeit haben sie sich genommen. Am Dienstag überstellten sie dem britischen High Court ihre von den Richtern angeforderten »Versicherungen« im Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange. Nachdem die Überstellung des Wikileaks-Gründers zunächst wegen der Suizidgefahr für den Journalisten vom Magistrates Court abgelehnt worden war, konnte Washington im Berufungsverfahren solche »Versicherungen« schon einmal erfolgreich ins Feld führen. Assange versucht nun, gegen die daraufhin genehmigte Auslieferung vor dem High Court in Berufung zu gehen – im Februar gab es dazu zwei Anhörungstage. Ende März erfolgte die vorläufige Aussetzung der Auslieferung verbunden mit der Frist für die US-Regierung, glaubwürdig zu versichern, dass der gebürtige Australier sich auf den ersten Verfassungszusatz berufen könne, und dass keine weiteren Anklagepunkte hinzukommen, auf die die Todesstrafe steht.

Und während letzte Woche die Nachricht, dass Präsident Joseph Biden »in Erwägung« ziehe, das Verfahren gegen den Wikileaks-Gründer einzustellen, hochgekocht wurde, tritt nun wieder Ernüchterung ein. Denn: »Die USA haben sich auf unverhohlene Worthülsen beschränkt und behauptet, Julian könne sich im Falle einer Auslieferung auf den ersten Verfassungszusatz berufen«, erklärte dessen Frau Stella Assange am Dienstag. Dieser schützt in den USA die Pressefreiheit und hat – etwa im Fall der »Pentagon Papers« – die Veröffentlichung geheimer Dokumente ermöglicht. Die von Stella Assange angeführte Worthülse bezieht sich auf die Phrase »may seek«, also im Klartext: Assange könne lediglich versuchen, sich auf den ersten Verfassungszusatz zu berufen, ohne dass ein Verbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit besteht.

Und wie es in der »Versicherung« selbst steht, fällt dessen Anwendbarkeit »ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich der US-Gerichte«. Und diese werden sich auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA aus dem Jahr 2020 berufen. Im Fall »USAID gegen die Alliance for Open Society« wurde geurteilt, dass Nicht-US-Bürger für Taten außerhalb der USA – im Fall von Assange die Aufdeckung von Kriegsverbrechen der US-Regierung im Irak, in Afghanistan und im Gefangenenlager Guantanamo sowie über Fälle von Folter und Überstellungen durch die CIA – keine verfassungsmäßigen Rechte besitzen. Das US-Justizministerium kann also mitnichten garantieren, dass er dieses Recht erhält. Dies müsste laut dem britischen Auslieferungsrecht, das auf der Europäischen Menschenrechtskonvention beruht, jedoch der Fall sein. »Die Vereinigten Staaten haben eine Nichtzusicherung in bezug auf den ersten Verfassungszusatz abgegeben«, urteilte Stella Assange. Sein Bruder Gabriel Shipton erklärte gegenüber Fox News Digital: »Diese diplomatische Note ist ein weiterer düsterer Meilenstein in der Verfolgung von Julian Assange.«

Zum zweiten Punkt heißt es deutlich klarer in der diplomatischen Note, dass die USA die Todesstrafe gegen Assange weder beantragen noch verhängen werden. Nach Einschätzung des Assange-Unterstützers und Prozessbeobachters Craig Murray wird der High Court in seiner dazu bereits anberaumten Anhörung am 20. Mai diese Zusicherung akzeptieren, es spiele aber keine wirkliche Rolle. Sollte der durch die lange Gefangenschaft unter Folterbedingungen gesundheitlich deutlich geschädigte 52jährige in allen gegen ihn vorgebrachten 18 Anklagepunkten verurteilt werden, drohen ihm 175 Jahre Haft. Murray schrieb daher folgerichtig auf seiner Webseite: »Die USA müssen Julian nicht hinrichten, sie können ihn lebenslang in einer winzigen Betongruft unter extremem Sinnesentzug einsperren, als schreckliche, halblebendige Warnung für jeden Journalisten, der ihre Verbrechen aufdecken könnte.«

Das Anwaltsteam von Assange hat nun das Recht, die Glaubwürdigkeit und Gültigkeit der eingereichten Zusicherungen der USA anzufechten. Die hätten dann wiederum das Recht, bei der Anhörung im Mai auf diese Stellungnahmen vor Gericht zu antworten. Sollten die Richter des High Court Washington folgen, könnte Assange theoretisch unmittelbar in einen Flieger Richtung USA gesetzt werden –, ohne dass er auch nur eine Chance bekommen hat, die Auslieferungsentscheidung der britischen Regierung vor Gericht anzufechten.

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  • Leserbrief von Michael aus Bogota (18. April 2024 um 14:36 Uhr)
    »Und während letzte Woche die Nachricht, dass Präsident Joseph Biden ›in Erwägung‹ ziehe, das Verfahren gegen den Wikileaks-Gründer einzustellen, hochgekocht wurde, tritt nun wieder Ernüchterung ein.« … oder beide hängen zusammen. Es wurde schon vielfach bemerkt, dass die fehlende Garantie bzgl. der Todesstrafe seltsam war, von Anfang an; das ist eine Formsache, das in Auslieferungsverfahren mit europäischen Ländern auszuschließen. Dass das nicht erfolgt war, ist schon bemerkenswert. Jetzt hat man sich lange Zeit gelassen und eine »Zusicherung« geschickt, die, gelinde gesagt, löchrig ist. Sie ist nicht offen absurd, da die formale Zusicherung zur Todesstrafe enthalten ist, aber sie hat die genannten klaffenden Lücken. Wir werden sehen, was passiert, aber das könnte Strategie sein: Dem Gesichtsverlust des »nee, doch nicht« nach fünf Jahren entkommen, aber gleichzeitig aus dem Problem rauskommen, indem man das Gericht dazu bringt, durch fehlende klare Zusicherungen das Verfahren in einem Verbot der Auslieferung enden zu lassen. Damit wäre die US-Regierung das zunehmend lästiger werdende PR-Problem los, jetzt, wo auch Vasallen wie Australien nicht länger den Mund halten können/wollen. Der Punkt der Einschüchterung kritischer Berichterstattung ist lange gemacht.

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