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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 5 / Inland
Energiewende

Stromknappheit in Oranienburg

Zuzüge, Wärmepumpen, Ladesäulen: Erstes städtisches Stromnetz hat Kapazitätsgrenze erreicht
Von Alexander Reich
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Rechtlich ist ein Notstand wie in Oranienburg seit Januar ausgeschlossen (Hochspannungsleitungen vor Windrad)

Es ist die Nachricht, auf die die Gegner der Energiewende gewartet haben: In Oranienburg bei Berlin ist der Strom knapp geworden. Die »Versorgungsmöglichkeiten« seien »ausgeschöpft«, teilte Peter Grabowsky, Geschäftsführer der Stadtwerke, am Mittwoch mit. »Um das Stromnetz in Oranienburg weiter stabil zu halten, können die Stadtwerke ab sofort keine Neuanmeldungen oder Leistungserhöhungen von Hausanschlüssen mehr genehmigen.« Das betreffe auch Wärmepumpen, Autoladesäulen, Gewerbe- und Industrieflächen. Besonders eng sei es im Zentrum und im Ortsteil Sachsenhausen.

Zum unstillbaren Bedarf hat nach Einschätzung der Stadtwerke »das starke wirtschaftliche Wachstum, der Zuzug von Neubürgern nach Oranienburg sowie der verstärkte Einbau von Wärmepumpen geführt«. Das alles war nicht absehbar? Jedenfalls nicht rechtzeitig, meinte Bürgermeister Alexander Laesicke (parteilos): »Der Strombedarf unserer wachsenden Stadt hat sich enorm entwickelt, schneller, als es in der Vergangenheit vorausgesehen wurde.«

Oranienburg hat knapp 47.700 Einwohner, im Jahr 2000 waren es noch keine 30.000, zehn Jahre später schon mehr als 40.000. Demnächst soll die 50.000 geknackt werden. Vielerorts wird gebaut, schon bald sollen etwa neue Wohnhäuser in der »Weißen Stadt« bezugsfertig werden, in einer Heinkel-Werkssiedlung von 1937/38.

Das stetige Wachstum hat mit dem Autobahnanschluss nach Berlin zu tun, man kann auch vom S-Bahnhof Oranienburg zum Potsdamer Platz durchfahren. Weder Lokalpolitik noch Hochspannungsnetzbetreiber Edis können von der Entwicklung überrascht worden sein. Und doch ist vor allem das Umspannwerk an seine Grenzen gekommen. Seit 2023 werde ein neues gebaut, das »eine deutlich erhöhte Stromabnahme aus dem Hochspannungsnetz ermöglichen« soll, heißt es in der Mitteilung der Stadtwerke. Fertiggestellt werde es allerdings nicht vor 2026.

Bis dahin könnten nun also weder Neubauten noch Wärmepumpen oder Ladesäulen ans Netz gehen, auch wenn die Stadtwerke »mit Hochdruck an einer Zwischenlösung« arbeiten – wie die genauer aussehen soll, blieb am Mittwoch offen. Christian Streege vom Regionalcenter Oberhavel der Industrie- und Handelskammer (IHK) sprach gegenüber dem RBB von einem »herben Einschnitt«: »Eine Stromknappheit, wie sie gerade ausgegeben wurde, ist ein Totschlagargument für den Standort.«

Bleibt die Frage, wie exemplarisch dieser Fall für die BRD ist. Ob Oranienburg »erst der Anfang ist«, wie der FDP-Bundestagsabgeordnete Michael Kruse auf X raunte. Dagegen spricht: Ein fehlendes Umspannwerk ist ein doch recht spezielles Problem, wie die zuständige Behörde für den Fall Oranienburg mitteilte: »Nach vorläufiger Bewertung der Bundesnetzagentur handelt es sich um Fehleinschätzungen bei der Planung«, hieß es aus Bonn. Auch »Kommunikationsdefizite« bei den verschiedenen Verteilnetzbetreibern kämen als Ursache in Betracht. Die Agentur arbeite an der Aufklärung.

Grundsätzlich sei ein Notstand wie in Oranienburg übrigens seit Januar rechtlich ausgeschlossen. Nach Paragraf 14a des Energiewirtschaftsgesetzes seien Netzbetreiber dazu verpflichtet, sämtliche neuen Wärmepumpen oder Ladesäulen anzuschließen. Sie hätten »ihr Netz vorausschauend zu ertüchtigen, um grundsätzlich Problemen mit mangelnder Kapazität vorzubeugen«. Allerdings dürften die Betreiber im Falle drohender Überlastung den Strom drosseln, so dass E-Autos langsamer geladen und Wärmepumpen weniger heizen würden. Das gilt jedoch nur für ab 2024 ans Netz angeschlossene Geräte. Ältere lassen sich in der Regel auch kaum wie beschrieben drosseln. Und wie das Handelsblatt am Mittwoch ergänzte, »sind die meisten Betreiber technisch noch gar nicht in der Lage, die Belastung in ihrem Netz so genau zu ermitteln, dass sie Verbraucher entsprechend herunterdimmen können«.

Die Lücke zwischen Rechtsanspruch und Wirklichkeit ist also groß genug für alle möglichen Befürchtungen. Gerade in den überfüllten Ballungsräumen könnten E-Autos und Wärmepumpen jahrzehntealten Stromnetzen den Rest geben. Aber die Rettung der Energiewende naht von oben. Die Bundesregierung hat sich in den Fall Oranienburg eingeschaltet, in Gestalt ihres Staatssekretärs für Wirtschaft, Michael Kellner (Grüne). Er nannte die Stromsperre »inakzeptabel« und verkündete eine Sofortmaßnahme: die Gründung einer »Arbeitsgruppe« zur Untersuchung des Ärgernisses im Oberhavelkreis.

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