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Aus: Ausgabe vom 17.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kolumbien

Der ungelöste Konflikt

Kolumbien: Rotes Kreuz zieht Bilanz zu humanitärer Lage. Auseinandersetzungen auf dem Land spitzen sich wieder zu
Von Julieta Daza, Caracas
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Kontrollpunkt der EMC-Guerilla: Einen Tag zuvor explodierte an der Straße eine Autobombe (Corinto, 12.4.2024)

Seit einem Jahr und fast acht Monaten wird Kolumbien, erstmalig in der Geschichte des südamerikanischen Landes, von einer progressiven Regierung geführt. An ihrer Spitze stehen Staatschef Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez. Doch wie viele linke Aktivisten vorhergesagt hatten, hat dies bis heute nicht zum Ende des bewaffneten und sozialen internen Konflikts geführt, der das Land seit mehr als 70 Jahren erschüttert.

Anfang April hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz einen Bericht über seine Arbeit in Kolumbien im Jahr 2023 veröffentlicht. Darin heißt es, die Organisation habe in diesem Zeitraum, auf Kriterien des humanitären Völkerrechts basierend, acht verschiedene bewaffnete Konflikte im Land identifiziert. Drei von ihnen beträfen die Regierung und nicht staatliche Akteure: die linke Guerilla »Nationale Befreiungsarmee« (ELN), die rechte paramilitärische Gruppe »Gaitanistische Selbstverteidigung Kolumbiens« (AGC) und eine oft als EMC bezeichnete abtrünnige Gruppe der ehemaligen Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee (FARC-EP), die anders als die Mehrheit dieser linken Guerillaorganisationen nicht am Friedensprozess von Havanna teilnahm. Die 2012 begonnenen Verhandlungen endeten 2016 mit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit der damaligen rechten Regierung des Präsidenten Juan Manuel Santos.

Fünf weitere Konflikte trügen die nicht staatlichen Akteure unter sich aus: ELN und AGC, dann die Splittergruppe EMC auf der einen und vier weitere bewaffnete Gruppen auf der anderen Seite, nämlich ELN, AGC, die Grenzkommandos – Bolivarische Armee (Comandos de Frontera – Ejército Bolivariano) und die mit ihnen verbündete linke Guerillaorganisation »Zweites Marquetalia« (FARC-EP Segunda Marquetalia). Letztere wurde ebenfalls von ehemaligen FARC-Angehörigen gegründet. Ihre Führung unter Comandante Iván Márquez besteht jedoch hauptsächlich aus Guerilleros, die sich dem Friedensprozess ursprünglich angeschlossen hatten. 2019, drei Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens, nahmen sie den bewaffneten Kampf wieder auf. Grund dafür seien die Nichteinhaltung des Friedensvertrages von staatlicher Seite sowie die Verfolgung früherer FARC-Kämpfer gewesen.

Der Bericht des Roten Kreuzes beschreibt die Folgen dieser Konflikte. Oftmals seien gerade die Einwohner auf dem Land betroffen, darunter besonders indigene und afrokolumbianische Gemeinden. Vertreibungen seien 2023 zwar im Vergleich zum Vorjahr um 13 Prozent zurückgegangen, doch beträfen sie nun neue Regionen. Über 50.000 Menschen haben bei Massenvertreibungen ihre Heimatdörfer verlassen müssen. Das westliche Departamento Nariño sei besonders stark davon betroffen. Ein weiteres Phänomen ist das der sogenannten Confinamientos (Zwangsaufenthalte), bei denen Einwohner ihre Häuser oder Dörfer aufgrund verschiedener Gefahren und Bedrohungen nicht verlassen können. Chocó, ebenfalls ein im Westen liegendes Departamento, ist mit mehr als 20.000 Opfern am stärksten betroffen. Aufgrund dieser Situation ist der Zugang zu medizinischen und anderen Basisdienstleistungen wie der Nahrungsmittel- sowie Wasserversorgung erschwert. 2023 habe das Rote Kreuz zudem 222 Menschen, unter ihnen 49 Minderjährige, als vermisst registriert. Auch habe es Angriffe auf medizinisches Personal sowie sexualisierte Gewalt gegeben.

Ohne Zweifel bietet der Bericht wichtige Informationen über die humanitäre Lage in Kolumbien. Doch die Aufführung des Staates als eines Akteurs neben anderen verschleiert eher dessen wahre Rolle in den Konflikten. Gemäß Verfassung hätte er nämlich als »Sozial- und Rechtsstaat« die Verpflichtung, die Bevölkerung und ihre Rechte zu schützen. Allerdings setzt Kolumbien, wo sich seit jeher eine US-hörige Oligarchie an der politischen und wirtschaftlichen Macht befindet, seit vielen Jahren mit Hilfe paramilitärischer Organisationen als illegale bewaffnete Staatsarmeen eine von Aufstandsbekämpfung geprägte Militärdoktrin durch. Das hat bisher die Kontinuität dieses oligarchischen Regimes und der Akkumulationsprozesse durch Ausbeutung und Enteignung im Lande garantiert. Nun stellen sogar die schüchternen, aber so noch nie dagewesenen Sozialreformen Präsident Petros und vor allem der weitere Organisationsprozess der Volksbewegung unter seiner Regierung eine Bedrohung für die etablierten Mächte dar.

Hintergrund:Schwieriger Frieden

Seit seinem Amtsantritt 2022 versucht der kolumbianische Präsident Gustavo Petro eine neue Politik umzusetzen – die des »vollständigen Friedens« (Paz total). Diese sieht Gespräche mit zwei Typen bewaffneter Gruppen vor: solchen, denen eine politische Natur zuerkannt wird und mit denen deshalb politische Dialoge mit dem Ziel eines Friedensabkommen geführt werden. Ferner mit Strukturen, die als kriminelle Organisationen charakterisiert werden. Ziel ist hier, sie vor Gericht zu bringen und zu zerschlagen.

Mit der linken Guerilla ELN, die als politisch anerkannt wird, ist der Prozess am weitesten gediehen. Aktuell befindet er sich jedoch wieder im Stillstand. Zuletzt begann am Sonnabend ein »außerordentliches Treffen« zwischen den Delegationen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas, um zu versuchen, die Krise zu beenden. Auch mit dem FARC-EP-Ableger EMC wird ein Friedensdialog geführt. Hier gibt es ebenfalls Probleme. In beiden Organisationen scheint es Versuche zu geben, die Führung in Frage zu stellen und Splittergruppen zu bilden.

Zwischen der »FARC-EP – Zweites Marquetalia«, mit der auch die »Grenzkommandos – Bolivarische Armee« alliiert sind, und der Regierung gibt es bisher nur eine im Februar veröffentlichte gemeinsame Erklärung, in der die zukünftige Aufnahme eines Friedensprozesses angekündigt wird.

Mit der paramilitärischen Gruppe AGC hat sich die Regierung zuletzt im März ausgetauscht. Sie wird als kriminelle Gruppe eingestuft, fordert aber eine Anerkennung ihres politischen Charakters. Das hat eine Debatte um die Charakterisierung solcher Gruppen eröffnet. Denn als illegale Organisationen zur Aufstandsbekämpfung haben die Paramilitärs bis heute einen politischen Charakter. (jd)

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