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Aus: Ausgabe vom 15.04.2024, Seite 7 / Ausland
Gazakrieg

Tatort Krankenhaus

Israelische Armee zerstört Gesundheitssystem und Gesellschaft in Gaza. Ruinen des Al-Schifa-Komplexes bezeugen Kriegsverbrechen
Von Karin Leukefeld
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Die ausgebrannten Ruinen des Al-Schifa-Krankenhauskomplexes

Der zwölfjährige Sakaria Al-Sersek arbeitet freiwillig im Al-Aksa-Krankenhaus im Zentrum von Gaza, im Gebiet von Deir Al-Balah. Der katarische Nachrichtensender Al-Dschasira folgt dem Jungen, wie er eine Bahre durch die überfüllten Flure schiebt. »Macht Platz«, ruft er und erzählt wenig später, dass er alles, was er könne, von den Ärzten und dem medizinischen Personal gelernt habe. Er setze Kanülen und entferne sie, trage Röntgenaufnahmen hin und her, er helfe, wo immer er gebraucht werde. Die Ärzte hätten nicht mehr viele Helfer in der Klinik, darum sei er da. Dr. Ijad Abu Saher, der Direktor der Al-Aksa-Klinik, ist froh über die Unterstützung. Das Kind sei aus seinem Zuhause vertrieben worden, er sei ein guter Junge und hilfsbereit. Das medizinische Personal arbeite seit 170 Tagen rund um die Uhr, und sei erschöpft, so Dr. Ijad. Wenn er groß sei, wolle er Arzt werden, sagt Sakaria. »Hoffentlich, wenn der Krieg vorbei ist.«

Das offizielle Informationsbüro im Gazastreifen hat für die vergangenen 185 Tage Krieg eine Aufstellung der Zerstörungen durch die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) veröffentlicht. 40.207 Personen seien getötet worden, Vermisste, deren Leichname unter Trümmern vermutet werden, einberechnet. 33.207 Leichname seien in Krankenhäuser registriert worden. 14.520 dieser Toten seien Kinder, 9.568 Frauen.

Die gesamte Zahl der registrierten Toten ist am Freitag, dem 189. Tag des Krieges, auf 33.534 gestiegen. Darunter sind auch drei Söhne und vier Enkelkinder des politischen Führers der Hamas, Ismail Hanija. Ihr Auto wurde unweit des Schati-Lagers in Gaza durch gezielten israelischen Raketenbeschuss getroffen. Am ersten Feiertag des muslimischen Zuckerfestes waren sie auf dem Weg zu Familienangehörigen, um zusammen zu feiern.

Die Auflistung des offiziellen Gaza-Informationsbüros gibt die Zahl des getöteten medizinischen Personals von Kliniken, Gesundheitszentren und Rettungsdiensten mit 485 an. 10.000 Krebspatienten fehlt es an medizinischer Versorgung, 350.000 Patienten mit chronischen Erkrankungen haben auch keine Medikamente. 310 Mediziner wurden demnach von Israel festgenommen. Die israelische Armee zerstörte durch ihre Angriffe 171 Regierungseinrichtungen, 100 Schulen und Universitäten. 305 Schulen und Universitäten wurden teilweise zerstört, drei Kirchen und 297 Moscheen wurden teilweise, 229 ganz zerstört. 32 von insgesamt 36 Krankenhäusern sind funktionsunfähig, ebenso 53 Gesundheitszentren. 126 Rettungsfahrzeuge wurden zerstört.

Am 6. April konnten Vertreter der Weltgesundheitsorganisation erstmals den medizinischen Komplex des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt erreichen. Die israelische Armee hatte sich am 1. April von dort zurückgezogen. Von dem »einstigen Rückgrat des Gesundheitssystems in Gaza« sei nur noch eine »leere Hülle mit Menschengräbern« geblieben, sagte der WHO-Vorsitzende Tedros Adhanom Ghebreyesus. Die WHO-Erkundungsmission konnte keine Patienten finden, dafür waren nahezu alle Gebäude und medizinische Einrichtungen verwüstet. Der Komplex sei außerstande, medizinische Versorgung anzubieten; Menschen seien durch nicht explodierte Munition gefährdet. Notaufnahme, Operationsräume, Mutter-Kind-Station seien komplett zerbombt und verbrannt, hieß es in einer ersten WHO-Stellungnahme. Bei der Notaufnahme und der Intensivstation für Neugeborene seien Wände eingerissen. Mindestens 115 Betten der verwüsteten Notaufnahme waren verbrannt, 14 Inkubatoren für Frühgeborene zerstört, ebenso Laborgeräte und die Sauerstoffanlage der Klinik, so die WHO-Mission. Computertomographiegeräte, chirurgisches Besteck, Sterilisationsmaterial und andere medizinische Geräte seien unbrauchbar. Dort, wo die Notaufnahme, die Verwaltung und die Operationssäle waren, wurden zahlreiche Gräber gefunden, viele Leichen seien oberflächlich beerdigt worden, die Gliedmaßen lägen frei. Mindestens fünf Leichname waren unbedeckt der Hitze ausgesetzt, so der WHO-Bericht. Über dem gesamten Gelände der Schifa-Klinik habe der stechende Geruch verwesender Leichen gehangen. Auch die Menschenrechtsorganisation Euro Mediterranean Human Rights Monitor hatte von Zeugenaussagen und verscharrten Toten im Innenhof des Komplexes berichtet, die Folter wie Erschießungen in der Leichenhalle des Krankenhauses durch die israelische Armee belegen sollen. Euro Med Monitor geht von über 1.500 Toten Verletzten und Vermissten nach der israelischen »Operation« im Al-Schifa-Krankenhaus aus.

Der amtierende Klinikdirektor berichtete der WHO, dass die Patienten während der israelischen Belagerung der Klinik ohne Essen und Wasser, ohne gesundheitliche Versorgung, ohne Hygiene und ohne sanitäre Einrichtungen ausharren mussten. Mit vorgehaltenen Waffen seien sie gezwungen worden, von einem Gebäude zum anderen zu ziehen. Mindestens 20 Patienten seien gestorben.

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