4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 13.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Pop

Im Regen wachsen

Viel zu teure Dächer: Nichtseattles neues Album »Haus«
Von Katja Koschmieder
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»Ich werds nie schaffen, so hart an euch vorbeizuleben« – Nichtseattle

Die Suche nach einem Zuhause – auf der persönlichen wie politischen Ebene – ist eine existentielle Frage. Dieser stellt sich auch die Berliner Singer-Songwriterin Katharina Kollmann alias Nichtseattle auf ihrem nach »Wendekid« (2019) und »Kommunistenlibido« (2022) bereits dritten Studio­album »Haus«. Dabei ist das Haus auf dem Cover-Artwork ein Zelt. Zum einen als Ausdruck für Behausung und Schutz vor draußen, zum anderen als Metapher für Unsicherheit, Prekarität, das Nichtankommen und stets auf der Flucht sein. Damit sind bereits einige Fragen benannt, die Nichtseattle auf ihrem neuen Album aufwirft.

»Haus« enthält zwölf Lieder, die sich weniger mit der unterschiedlichen Beschaffenheit von Altbau- oder Platten­bauwohnungen, Proberäumen oder Fahrgastunterständen, Schlössern oder Papierhäusern beschäftigen, sondern vor allem mit ihren Bewohnern. Denn sie begreift ein Haus nicht als ein Ding, sondern als ein Verhältnis. Es geht um Eigentumsverhältnisse, wenn Nichtseattle die Geschichten der Protagonisten (und ihre eigene) in ihren Liedern erzählt, für die die klassischen dreieinhalb Minuten meistens nicht reichen und die jedes Radio- und Streamingformat wohltuend sprengen.

Sie ist dabei eine feinfühlige Beobachterin, ihre Stücke sind psychologische Studien. Da gibt es beispielsweise den Hipstertypen in seiner Eigentumswohnung und mit den Biobelugalinsen, der stolz Bücher von Frauen liest, aber wenig von Liebe versteht. »Ich sammel meinen Körper ein, der scheint nicht angebracht zu sein. Ich tröste meine Einzelteile, pack die ein und fahr ne Weile nachts durch meine Zuhausestadt, die mich mal geboren hat, nachts durch meine Zuhausestadt, die viel zu teure Dächer hat.«

Sie erinnert sich an »Leute mit Gründen, zumindest für ein paar Jahre, an Amseln, Drosseln, Finken, Stare, an Leute für sich und Altersvorsorge, von denen ich mir Regenschirme ausborge« und an »Leute, die glauben an verdientes Glück, an auch mal staubsaugen. Dafür Lohn, aber Schuld und Gespenster!« In »Keinen Kaffee«, für das der Türrahmen steht, singt Nichtseattle über jene, die »immer laut, nie leise« aus dem Raum gehen, ohne sich mal umzudrehen. »Diese laute Art ist ganz normal, vielleicht gesund und klug, doch euer Gehen ist mir zu hart, denn ich bin immer noch nicht alt genug! Und eigentlich will ich keinen Kaffee. Ich will nicht ›mal von mir erzählen‹. Ich werds nie schaffen, so hart an euch vorbeizuleben.«

Nichtseattles Worte heben die Trennlinie zwischen Privatem und Politischem ganz natürlich auf. Es sind kluge Texte, selbstironisch, melancholisch, aber immer lebensbejahend. Ihre Stimme, stets im Mittelpunkt, wird von Kollmanns eigentümlichen Gitarrenriffs und sich behutsam entfaltenden Dynamiken begleitet. Da sie mittlerweile eine richtige Band hat, gibt es in einigen Passagen auch Schlagzeug, E-Gitarre und sogar Bläser zu hören.

Besonders intensiv ist das sieben Minuten und fünf Sekunden lange Stück »Frau sein« (Werkstatt). Aus der Lebenswirklichkeit einer Frau Ende 30, die sich irgendwo zwischen überteuerten Großstadtmieten und gesellschaftlichem Erwartungsdruck behaupten muss, singt sie von unterschiedlichen Lebenswegen, die Freundschaften auf die Probe stellen, von Enttäuschungen und unerfüllten Utopien: »Ich lieb sie unglaublich, anrufen werd ich nicht. Was soll ich ihr erzählen? Von entzündeten Sehnen, von Shitstorm, wach und Hund? Vom Aufstehen ohne Grund, tieftraurigen Liedern, die rühmen, unseren Geschichten auf Bühnen? Von unbekannten Namen, von keinem, der bleibt und von leerem Unterleib. Von ewigen Dramen, von seltenen Farben und von keinen Feiertagen! Von meinen Utopien, die bisher unsagbar blieben und von den ungeheuren Mieten! Will ich nicht, ich will das nicht!«

Zwar sind einige Songs als gescheiterte Haussuche der Künstlerin selbst zu deuten, sie stiften aber dennoch ein starkes Gefühl der Verbundenheit und Solidarität. »Ich glaub, wir sind alle verwandt! Es ist der eine Unterstand im aussichtslosen Niederschlag«, ruft Kollmann mehr, als dass sie singt, in die Welt hinaus, »so sehr ich auch die Lieder mag, die uns das Sauwetter abzwingt, hoff ich, dass es uns hinabbringt auf festen Boden, so kann es gehen, weil wir hier nicht alleine stehen. Ich glaub, wir sind alle verwandt. Es ist der eine Unterstand, unter den wirklich alle passen, denn im Regen kann er wachsen.«

Nichtseattle: »Haus« (Staatsakt)

Termine: 2.5., Franz Ulrich, Kassel; 4.5., Hanse Song, Stade; 1.6., Immergut-Festival, Neustrelitz; 3.6., Aalhaus, Hamburg

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