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Aus: Ausgabe vom 13.04.2024, Seite 1 / Titel
Repression

Staat verbietet Solidarität

Berlin: Palästina-Kongress kurz nach Beginn von Polizei aufgelöst. Zuvor immer wieder Eingriffe in den Ablauf. Livestream gekappt
Von Jamal Iqrith
Kongress unmöglich gemacht: Polizisten und Teilnehmer am Freitag in Berlin

Nach einer monatelangen Kampagne gegen die Veranstalter und die Inhalte des Kongresses palästinasolidarischer Gruppen hat die Veranstaltung am Freitag nachmittag in Berlin-Tempelhof begonnen. Der Berliner Senat bot am Freitag 900 Polizisten auf, die den Veranstaltungsort erst verspätet – und für maximal 250 Teilnehmer – freigaben und auch im Innern des Gebäudes engmaschig Präsenz zeigten. Die Polizei stufte die geschlossene Saalveranstaltung zudem als »Demonstration« ein und erließ entsprechende Auflagen. Dabei handelte es sich, wie sich am frühen Abend zeigte, um die Vorbereitung der Auflösung der fiktiven »Demonstration«: Um 17.24 Uhr, wenige Minuten vor jW- Redaktionsschluss, erklärte die Polizei die Veranstaltung per Durchsage für aufgelöst. Ohne Begründung. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte am Freitag ein »sofortiges hartes Einschreiten« bei »Straftaten« angekündigt.

Zuvor hatten die Anwesenden den Kongress nach mehrstündiger Verzögerung mit tosendem Applaus eröffnet. Von Freitag bis Sonntag sollte unter dem Motto »Wir klagen an!« die deutsche Mitverantwortung für die von der israelischen Regierung angerichtete humanitäre Katastrophe im Gazastreifen angeprangert werden. Zu Tumulten kam es bald nach der Eröffnung während einer Videobotschaft des 84jährigen palästinensischen Autors Salman Abu Sitta. Die Polizei erzwang den Abbruch des Vortrags und schaltete den Strom ab. Bis jW-Redaktionsschluss war der Grund hierfür nicht bekannt; kurz vor 17 Uhr wurde der Strom zunächst wieder eingeschaltet, aber der Livestream verboten.

Vor dem Gebäude warteten Hunderte Teilnehmer auf Zutritt zum Saal. In der Warteschlange waren Flaggen, Sprechchöre und Transparente zu sehen. Die Begrenzung der Teilnehmerzahl ordnete die Polizei mit Verweis auf »nicht ausreichende Fluchtwege« an. Platz für Dritte war aber dennoch: Die Polizei verschaffte Dutzenden nicht akkreditierten Medienvertretern Zugang.

Dass der Kongress überhaupt stattfinden könne, sei das Ergebnis »stundenlanger Verhandlungen mit der Polizei«, so Nadija Samour, Rechtsbeistand der Kongressleitung, am Nachmittag gegenüber jW. Auch auf den Vermieter habe die Polizei »extremen Druck« ausgeübt. Dies sei »bürokratische Gewalt, wie man sie nur in Deutschland erleben kann«. Den Tagungsort in Berlin-Tempelhof hatten die Organisatoren aus Sorge vor Übergriffen erst bei einer Pressekonferenz am Freitag morgen bekanntgegeben, zu der Vertreter zahlreicher Medien erschienen waren. Von den Veranstaltern wollten Journalisten wissen, ob sie »Antisemiten« seien, »wie sie zur Hamas stehen« und warum nicht alle Medien eine Akkreditierung erhalten hätten.

Auch am Freitag machte die Politik weiter parteiübergreifend Stimmung gegen den Kongress. Bereits am Donnerstag hatte Berlins Innensenatorin, Iris Spranger (SPD), eine harte Linie angekündigt und erklärt, ein Großaufgebot der Polizei werde bereitgestellt, um die Veranstaltung »genau zu beobachten« und notfalls einzuschreiten. Einem der Hauptredner, dem britisch-palästinensischen Chirurgen und Rektor der Universität Glasgow Ghassan Abu Sitta, wurde laut Veranstaltern am Berliner Flughafen die Einreise verweigert. Abu Sitta hatte nach dem 7. Oktober mehr als 40 Tage mit »Ärzte ohne Grenzen« im inzwischen völlig zerstörten Al-Schifa-Krankenhaus im Gazastreifen gearbeitet.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. aus W. (13. April 2024 um 22:23 Uhr)
    Was für ein irrer Exzess der Repressionsinstanzen des bürgerlichen Staates gegen genau die Grundwerte, auf die er so unglaublich stolz ist.
  • Leserbrief von Stefan D. aus Halle (13. April 2024 um 12:18 Uhr)
    Nicht nur, dass sich die BRD mit Waffenlieferungen an Israel und Ukraine an Kriegen beteiligt, und im Falle Israels Massaker an den Palästinensern sogar Völkermord unterstützt, wofür sich die Regierung zurecht Klagen von Nicaragua und anderen ausgesetzt sieht. Es reicht nicht mehr, dass die Regierung ihre uneingeschränkte Solidarität mit Israel ausspricht. Jetzt werden hier sogar Menschen, die vom Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen und sich erlauben, zu meinen, dass man Solidarität mit den vielen unschuldigen Palästinensern ausdrücken muss und dass man Israels Krieg gegen die Palästinensergebiete unverhältnismäßig nennen darf, an der Ausübung dieses Grundrechts in Form eines Kongresses gehindert. Was sollen die Menschen im Gazastreifen, die nicht alle Hamas-Mitglied sind und keine Verantwortung für den menschenverachtenden Überfall der Hamas auf Israel am 07. Oktober 2023 tragen, nur von uns Deutschen denken? Wie können wir noch international glaubwürdig für die friedliche Lösung von zwischen- und innerstaatlichen Konflikten auftreten, wenn wir nicht einmal einen friedlichen Meinungsaustausch im Rahmen eines Kongresses erlauben? Dass sich Politiker von SPD bis Linkspartei finden, die das Verbot des Palästinakongresses unterstützen, ist einfach nur eine Schande für ehemals linke Parteien. Es ist an der Zeit, dass die deutsche Bevölkerung aufwacht und entschiedenen Widerstand und Protest gegen diese Demokratie und Völkerrecht verachtende Regierung leistet. Nutzen wir die Wahlen, um dieser Regierung einen Denkzettel zu verpassen, den 1. Mai und andere Demonstrationen, um die Gewerkschaften und Zivilgesellschaft wachzurütteln für den Kampf sowohl gegen den aufstrebenden Faschismus als auch gegen eine Regierung, die das Erstarken des Faschismus sowohl im In- als auch im Ausland ermöglicht!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (13. April 2024 um 05:53 Uhr)
    Es war eine »Lehrstunde« wertegeleiteter Demokratie. Ich habe sie im Livestream verfolgt bzw. verfolgen wollen. Und als die Beamten der Polizei den Saal stürmten und dem Livestream den »Stecker zogen« wurde mir eines klar: Demokratie kommt nicht aus dem Griechischen, sondern aus dem Wörterbuch dieser Möchtegerndemokraten. Gestern Abend nach diesen Eindrücken machten sich in meinem Kopf Bilder breit: Was wäre das für ein Geschrei, wenn das in Russland, China, Nordkorea oder auch in Serbien passiert wäre? Wie würden sich die Regierenden in ihrem Hass überschlagen, in ihrer Anklage wegen Unterdrückung der Meinungsfreiheit, gegen autokratische oder totalitäre Regierungen. Und auf diesem Kongress sollte unter der Losung »Wir klagen an« die Verstrickung Deutschlands in diesen Völkermord Israels (nicht der jüdischen Bevölkerung!) an die Öffentlichkeit kommen. Aber es kann nicht sein, was nicht sein darf – unter dem Deckmantel des Holocaust werden israelkritische Stimmen mit staatlicher Gewalt unterdrückt. Wie auch im Januar zur Liebknecht-Luxemburg-Demo. Und die Videobotschaft von Salman Abu Sitta als Grund für das Verbot des Kongresses zu nehmen, ist hanebüchen. Das Programm war Tage vorher bekannt, die Veranstaltungsbehörde hätte es vorab zur Kenntnis nehmen können und das Verbot des Abspielens in ihre ellenlange Liste der Auflagen aufnehmen können. Uns, die wir uns mit dem palästinensischen Volk solidarisieren, wird Antisemitismus vorgeworfen. Diese zumindest üble Nachrede ist strafbewehrt. Ich bin weder gegen jüdisches Leben noch für Gewalt, aber ich bin gegen diese absolutistische Verengung des Meinungskorridors. Für mich ist diese Art des Umgangs der Regierenden mit Kritik an der israelischen Regierung eine Verleumdung des Gedenkens an die Millionen Opfer des Holocaust. Sie werden für die Herrschaftsinteressen ein weiteres Mal missbraucht, instrumentalisiert. Und auch das klagen viele an, auch ich.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (12. April 2024 um 23:48 Uhr)
    Ja, so woke, tolerant und farbenfroh ist die BRD – außer natürlich bei »schwarz-weiß-rot-grün«. Meine Spende an die Veranstalter geht morgen auf die Reise – trotz alledem!
  • Leserbrief von Richard (12. April 2024 um 21:39 Uhr)
    Da hat jemand ein echtes Problem – wenn man wegen Völkermord auf der Anklagebank sitzt, kann man seiner Sicht der Dinge offenbar nur noch mit nackter Gewalt Geltung verleihen. Deutschland reitet sich immer tiefer rein in die braune Mistgrube.

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