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Aus: Ausgabe vom 11.04.2024, Seite 6 / Ausland
Südkurdistan

Türkei plant Invasion im Nordirak

Ankara sucht bei militärischem Vorgehen gegen PKK Schulterschluss mit Bagdad
Von Tim Krüger
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Irak–Türkei: Bauarbeiten im Rahmen des irakischen »Development Road«-Infrastrukturprojekts (Basra, 8.2.2024)

Nachdem die Regierungskoalition in der Türkei bei den Kommunalwahlen vom 31. März eine schwere Niederlage hinnehmen musste, laufen Vorbereitungen für eine neue Militäroffensive im Nordirak. Die türkische Armee hat seit 2018 wiederholt Vorstöße in die angrenzenden Bergregionen des Nachbarlandes unternommen und leistet sich immer wieder heftige Auseinandersetzungen mit Guerillaverbänden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Autonomen Region Kurdistan. Zuletzt mussten die Streitkräfte rund um den Jahreswechsel herbe Verluste einstecken, als kurdische Kämpfer eine Reihe von erfolgreichen Überfällen auf Stellungen in den Gebieten nahe der türkischen Grenze unternahmen und dabei zahlreiche Soldaten töteten.

Seitdem am 14. März eine türkische Delegation unter Führung des Außenministers und ehemaligen Geheimdienstchefs Hakan Fidan in Bagdad zu Gast war, befürchten Beobachter eine baldige Ausweitung der Angriffe. Der türkischen Delegation ging es in der irakischen Hauptstadt über einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen hinaus vor allem um ein gemeinsames Vorgehen gegen die PKK im Nordirak. Der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler kündigte nach dem bilateralen Treffen an, dass ein Militäreinsatz ein Gebiet von 30 bis 40 Kilometern in das Landesinnere hinein betreffen werde, und stellte die Einrichtung eines »gemeinsamen Operationszentrums« beider Länder in naher Zukunft in Aussicht. In der Vergangenheit hatte die irakische Zentralregierung sich mehrfach gegen die militärischen Einsätze der Türkei in der Autonomieregion ausgesprochen und die Alleingänge Ankaras als eklatante Verletzung der irakischen Souveränität verurteilt.

Hintergrund der türkisch-irakischen Annäherungen dürften vor allem wirtschaftliche Großprojekte zwischen den beiden Ländern sein. Der Nationalkongress Kurdistan erklärte am Dienstag in einer schriftlichen Stellungnahme, dass »neben Erdoğans üblichem antikurdischen Kreuzzug (…) eines seiner Ziele« sei, »den Weg für eine neue Handelsroute zu ebnen«, das sogenannte Iraq Development Road Project. Das im Frühjahr 2023 verkündete Megaprojekt soll den im Bau befindlichen Hafen der irakischen Stadt Basra am Persischen Golf über ein umfassend ausgebautes Netz von Straßen und Eisenbahnlinien mit der 1.200 Kilometer entfernten türkischen Grenze verbinden. Ein »Knotenpunkt« der Route läge zwischen dem von Jesiden bewohnten Şengal- bzw. arabisch Sindschar-Gebirge und dem selbstverwalteten kurdischen Flüchtlingslager Mexmûr im Nordirak. Das kurdische Exilparlament mit Sitz in Brüssel warnte deshalb vor einem möglichen türkischen Angriff.

Erst vergangene Woche bombardierte eine türkische Kampfdrohne im Şengal-Gebirge ein ziviles Fahrzeug. Es war nicht der erste Angriff dieser Art. Im März war ein Kommandant der Widerstandseinheiten Şengals und im Februar ein jesidischer Familienvater getötet worden. Im Dezember verloren fünf Arbeiter bei einem Luftangriff ihr Leben. Die türkische Regierung rechtfertigt die Aggression gegen Mitglieder der nach dem Genozid durch die Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) 2014 gegründeten Selbstschutzeinheiten unter Verweis auf deren Nähe zur kurdischen Freiheitsbewegung als »Kampf gegen den Terrorismus«. Doch auch zivile Mitarbeiter der jesidischen Selbstverwaltung werden immer wieder Opfer der völkerrechtswidrigen türkischen Angriffe.

Vergangenes Jahr hat der Deutsche Bundestag die Massaker des IS an der jesidischen Bevölkerung 2014 als Genozid anerkannt. Im Frühjahr 2023 war Außenministerin Annalena Baerbock selbst in die vom Krieg gebeutelte Region gereist, um die Opfer des Völkermords der Unterstützung der Bundesrepublik zu versichern. Trotz der Tatsache, dass auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags wiederholt festgestellt haben, dass die Türkei keine stichhaltigen Beweise vorlegen könne, die ihr Vorgehen völkerrechtlich rechtfertigten, hüllt sich das »grün« geführte Außenministerium bezüglich der Angriffe des NATO-Partners weiterhin in tiefes Schweigen.

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  • Leserbrief von Doris Prato (15. April 2024 um 11:47 Uhr)
    Bei der völkerrechtswidrigen Aggression der USA gegen den Irak 2004 war die Türkei in Komplizenschaft mit der BRD eine Aufmarschbasis. Die Bundesluftwaffe stellte damals Besatzungsmitglieder für die an der türkisch-irakischen Grenze stationierten fliegenden AWACS-Maschinen, lieferte der Türkei PATRIOT-Luftabwehrraketen. Die AWACS-Basis befand sich in Geilenkirchen bei Aachen, wo 17 dieser fliegenden Gefechtsstände stationiert waren. Zusammen mit der BRD stützte die Türkei auch die zur Begründung des Überfalls von US-Präsident Bush verbreitete die Lüge von dem angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen des Irak. Tatsächlich wurden diese Waffen nie gefunden. Auch die Iraq Survey Group (ISG) kam in ihrem knapp 1500 Seiten starken Abschlussbericht zu dem Schluss, dass der ehemalige irakische Diktator Saddam Hussein zum Beginn der amerikanisch geführten Invasion nicht über solche Waffen verfügte. Auch dessen angebliche Verbindung zu den Anschlägen von Al Kaida vom 11. September 2001, die die USA zum Vorwand der Entfesselung des »Krieg gegen den Terror« nahmen, ließ sich nicht nachweisen, wie der frühere Staatsekretär Andreas von Bülow: in »Die CIA und der 11. September« (München 2001) nachwies.
    Für die Türkei ging es – damals wie im Grunde auch heute – im Irak darum, gegen die Autonomiebestrebungen der Kurden, besonders ihres von der PKK geführten Flügels, Front zu machen und einen Kurdenstaat, der ein Nachbarstaat der Türkei gewesen wäre, zu verhindern, falls nicht, ihn unter Kontrolle zu halten. Was eine Gründung betrifft, gelang ihr das in der Folgezeit auch. Die Bundeswehr bildet heute den Peschmerga-Flügel der Kurden aus und liefert ihm Waffen. Mit der so betriebenen Spaltung der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung wird auch deren Ausstrahlung auf die rund elf Millionen Kurden in der Türkei Einhalt geboten.

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