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Aus: Ausgabe vom 11.04.2024, Seite 2 / Kapital & Arbeit
Whistleblowing in der BRD

»Wir müssen von innen heraus aufklären«

Bedingungen in der sozialen Arbeit treiben Fachkräfte zum Whistleblowing. Ein Gespräch mit Susanne Dyhr und Benedikt Hopmann
Interview: Lukas Schmolzi
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Auch »systemrelevant«? Demonstration internationaler Gewerkschaftsorganisationen in Berlin zum 1. Mai 2023

Wegen Einsparungen werden Standards in der sozialen Arbeit immer weniger eingehalten. Welche Missstände bewegen derzeit Beschäftigte besonders dazu, sich mit Informationen aus Betrieben an die Öffentlichkeit zu wenden – also Whistle­blowing zu betreiben?

Susanne Dyhr: Wir sind mittlerweile in vielen Bereichen an einem Punkt, wo wir die professionellen Standards nicht mehr einhalten können. Zunehmende Einsparungen, Fachkräftemangel und profitorientierte Anbieter im sozialen Bereich verschlechtern die Arbeitsbedingungen. Vor allem aber sinkt die Angebotsqualität. Die Situation ist nicht überall gleich. Es gibt weiterhin Träger, die trotz der prekären finanziellen Lage versuchen, Qualitätsstandards aufrechtzuerhalten. Aber davon ist nicht überall auszugehen.

Mir hat in der Lehre eine Studentin erzählt, dass ihr einziger Ansprechpartner in der Ausbildungsstelle, einer Gewaltschutzeinrichtung, der Hausmeister sei. Besonders gravierend ist die Situation in Unterkünften für Geflüchtete. Das Ankunftszentrum Tegel in Berlin steht aktuell zu Recht in der Kritik. Aber auch die Übernahme eines der bundesweit größten Anbieter von Asylunterkünften durch den Rüstungskonzern Serco führt zu Entwicklungen in der sozialen Arbeit, die uns große Sorgen bereiten. Diese Zustände sind wenig bekannt, weshalb wir von innen heraus über die vorgefundenen Zustände aufklären müssen.

Warum reichen die offiziellen Beschwerdewege nicht aus?

S. D.: Alle Einrichtungen in der sozialen Arbeit sind abhängig von Fördermittelgebern, häufig ist das der Staat. Durch die neoliberale Kürzungspolitik kommt es zu Ausschlüssen von marginalisierten Gruppen aus der Versorgung. Zudem entsteht dadurch ein hoher Konkurrenzdruck unter den Trägern. Sowohl die Mittelgeber als auch die Träger haben ein Interesse daran, dass ihr Ruf nach außen nicht geschädigt wird. Darum steht in manchen Arbeitsverträgen, dass Informationen über den Träger als Arbeitsgeheimnisse gelten. Daneben gibt es im sozialen Bereich Arbeitgeber, die gewerkschaftsfeindlich sind, wie am Beispiel von Inés Heider deutlich wird. Sie wurde von ihrem Arbeitgeber gekündigt, nur weil sie ihre Kollegen per Mail über eine Demo gegen die Haushaltskürzungen informiert und darauf hingewiesen hatte, welche Möglichkeiten es gibt, sich im Betrieb zu organisieren.

Was sagt die derzeitige Rechtsprechung über Whistleblower in der BRD?

Benedikt Hopmann: Alle veröffentlichten Urteile beziehen sich auf unerwünschte Äußerungen von abhängig Beschäftigten. Das Arbeitsverhältnis ist ein Herrschaftsverhältnis: Der Unternehmer bleibt sanktionsfrei, was auch immer er sagt. Man muss sich zudem darüber im klaren sein, dass alle, die durch eine Meinungsäußerung verletzt werden, umfassend durch Gegenrechte geschützt sind. Diese Rechte haben auch die Unternehmen. Daneben gibt es sogenannte Loyalitätspflichten gegenüber den Firmen, die aus dem Arbeitsverhältnis hergeleitet werden und auf eine weitere Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit hinauslaufen. Da stellt sich die Frage: Warum diese Sonderrechte für das Kapital?

Welchen Rat haben Sie für Beschäftigte in der sozialen Arbeit, die sich mit Missständen an die Öffentlichkeit wenden wollen?

S. D.: Es ist wichtig, dass wir trotz der rechtlichen Unsicherheiten die Öffentlichkeit über Missstände informieren. Aber niemand sollte kopflos in die Sache starten und am Ende alleine mit den Konsequenzen bleiben. Wir empfehlen die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, um rechtlichen Beistand zu haben und unsere Interessen auch auf dieser Ebene durchzusetzen.

Ist das relativ neue Hinweisgeberschutzgesetz geeignet, Informanten zu schützen?

B. H.: Erst nachdem die EU eine Richtlinie erlassen hatte und damit Deutschland zu einem Schutzgesetz gezwungen war, beschloss der Bundestag im vorigen Jahr dieses Gesetz. Es genügt nicht einmal dem Mindeststandard, den die EU-Richtlinie vorgibt. In Deutschland darf nur ein rechtswidriger Missstand offengelegt werden, alles unterhalb dessen nicht. Ebenfalls nicht erlaubt ist die Offenlegung von unrichtigen Informationen, oder solchen, bei denen nur geringe Aussichten bestehen, dass die zuständigen Ermittlungsbehörden wirksam gegen den Missstand vorgehen werden.

Susanne Dyhr ist Sozialarbeiterin in Berlin und organisiert den Solidaritätstreff Neukölln. Benedikt Hopmann ist Anwalt

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in manfred g. aus Berlin (10. April 2024 um 22:37 Uhr)
    Ich muß Susanne Dyhr als qualifizierter Berufskollege vollkommen Recht geben. Es wimmelt von Unqualifizierten, Minderqualifizierten und fremdqualifizierten Leuten, die sich willfährig den jeweiligen Arbeitgebern andienen. Man hat vielerorts keine Chance sich überhaupt qualifiziert tätigkeitsbezogen besprechen zu können. Bleiben also nur Auswege der Artikulation.

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