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Aus: Ausgabe vom 10.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Krieg gegen Gaza

KI gegen Zivilisten

Gazakrieg: Israel lässt künstliche Intelligenz Zehntausende »menschliche Ziele« markieren. Grundlage für massenhafte Tötung von Nichtkombattanten
Von Jakob Reimann
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Großflächige Zerstörungen und zivile Opfer kennzeichnen Israels Kriegführung (Norden des Gazastreifens, 31.3.2024)

Die extrem hohe Zahl ziviler Opfer in Israels Krieg gegen Gaza geht laut einer Recherche auf den weitreichenden Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) zurück. Mit nur marginaler menschlicher Überwachung und Kontrolle wurde das KI-System zur Erfassung mutmaßlicher Hamas-Kämpfer genutzt, wobei zweistellige Zahlen ziviler »Kollateralschäden« einkalkuliert und zugestanden wurden. Bei höherrangigen Hamas-Funktionären stieg diese Zahl teils auf dreistellige Werte, »Ziele« wurden systematisch in ihrem Zuhause angegriffen. Ganze Stadtteile und Nachbarschaften im Gazastreifen wurden so in den vergangenen Monaten dem Erdboden gleichgemacht.

Hinter der beispiellosen Zerstörung steckt maßgeblich das durch KI betriebene Zielerfassungssystem »Lavender«, wie eine Untersuchung des israelisch-palästinensischen +972 Magazine und seiner hebräischsprachigen Partnerseite Sikha Mekomit von vergangener Woche aufdecken konnte. Der israelische Autor Yuval Abraham – der in Deutschland wegen der Schmähkampagne gegen ihn und seinen palästinensischen Kollegen Basel Adra im Zuge der Preisverleihung auf der Berlinale traurige Berühmtheit erlangte – gründete seine Recherchearbeit auf Insiderinformationen von sechs israelischen Geheimdienstoffizieren, die im aktuellen Krieg mit der Auswahl von Zielen für die Tötung von Hamas-Kämpfern befasst waren.

Tod in Sekunden

Demnach war der Einfluss von »Lavender« insbesondere in den Anfangsmonaten derart bedeutend, dass die Ergebnisse der KI im Grunde so behandelt wurden, »als seien sie eine menschliche Entscheidung«. Die Militärführung erteilte den Offizieren pauschale Genehmigungen, die »Tötungslisten« (»Kill lists«) der KI umzusetzen. Gründliche Prüfungen, wie »Lavender« zu den Ergebnissen kam oder welche nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der Zielauswahl zugrunde lagen, wurden nicht durchgeführt. Laut einer Quelle waren normalerweise nur rund 20 Sekunden zur Überprüfung der KI-Anweisung vorgesehen. Und dieses Zeitfenster diente ausschließlich der Sicherstellung, »dass das von ›Lavender‹ markierte Ziel männlich ist«.

Mindestens 33.000 Menschen wurden seit dem 7. Oktober 2023 – als palästinensische Gruppen aus Gaza Israel überfielen und mehr als 1.100 Menschen massakriert sowie rund 250 als Geiseln genommen wurden – vom israelischen Militär in Gaza getötet und mehr als 75.000 weitere verletzt. Tausende Tote werden unter den Trümmern vermutet. Während die israelische Führung stets versichert, sie führe einen Krieg gegen die Hamas und lege hohen Wert auf den Schutz zivilen Lebens, sind rund 70 Prozent der Toten Frauen und Kinder.

Diese Zahlen sind das Resultat einer in der jüngeren Geschichte moderner Kriegführung beispiellosen Bombenkampagne gegen eine urbane Bevölkerung. So fliegt Israel im Schnitt weit mehr als 200 Angriffe pro Tag, allein in der ersten Kriegswoche waren es nach Angaben des israelischen Militärs 6.000. Zum Vergleich: Im Rekordjahr 2019 feuerte die US-Luftwaffe 7.423 Bomben auf Afghanistan ab. In den ersten Kriegsmonaten griff die israelische Luftwaffe über 30.000 Ziele in Gaza an. Somit ist die Anzahl bombardierter Ziele höher als jene der »Koalition der Willigen« beim Überfall auf den Irak 2003.

In den vergangenen Gazakriegen war die Anzahl der zu tötenden Hamas-Kämpfer – auch im zivilen Umfeld – noch auf »einige Dutzend« hochrangige Hamas-Funktionäre beschränkt. Doch nach dem Überfall vom 7. Oktober wurden diese Beschränkungen über Bord geworfen. Die Armee beschloss, »alle Aktivisten des militärischen Flügels der Hamas als menschliche Ziele zu markieren« – und das unabhängig von ihrem Rang oder ihrer militärischen Bedeutung. »Das änderte alles«, so Abraham. Durch die »Tötungslisten«-Ausweitung auf »Zehntausende von Angehörigen niedrigerer Ränge« wurde der Einsatz automatisierter Datenanalyse – hier: »Lavender« – zur militärischen Notwendigkeit.

Familien ausgelöscht

Aufgrund der massenhaften Überwachung Gazas liegen den israelischen Diensten Informationen wie Mobilfunkdaten oder Bewegungsprofile über nahezu alle 2,3 Millionen Bewohner des Küstenstreifens vor, die von der KI analysiert werden konnten. Diese Daten wurden dann mit den Profilen bekannter Hamas-Funktionäre abgeglichen, und so wurde jeder Person »auf einer Skala von eins bis 100« eine Wahrscheinlichkeit zugeordnet, ob sie Teil einer militanten Gruppe ist oder nicht. Dieser Prozess resultierte in der Markierung von etwa 37.000 »menschlichen Zielen«.

Ein weiteres KI-Programm verfolge laut Abrahams Quellen die Bewegungen dieser »Ziele« und signalisiere, wenn diese ihre Wohnhäuser betreten, woraufhin der Befehl zum Angriff erfolge. Für die Armee war es am einfachsten und zielführendsten, Kämpfer in ihren Wohnungen zu töten, was zumeist nachts geschehe, wenn auch deren Familien anwesend sind. Demnach wurde es gestattet, dass für die Tötung eines Verdächtigen »bis zu 15 oder 20 Zivilisten getötet werden«. Dieses vom Militär so genannte »Maß an Kollateralschäden« wurde den Quellen zufolge ohne Einzelfallprüfung pauschal auf alle mutmaßlichen niedrigrangigen Kämpfer ausgeweitet. Dadurch wurden ganze Familien in Gaza ausgelöscht, wie aus Erhebungen der UNO hervorgeht. Das Programm zur Bewegungserfassung der 37.000 »Ziele« hieß »Where’s Daddy?« (»Wo ist Papa?«) – die bewusste Tötung palästinensischer Kinder steckt hier bereits im Namen. Bei mehreren Gelegenheiten genehmigte die Militärführung für die Ermordung eines einzigen höherrangigen Funktionärs den Tod von mehr als 100 Zivilisten, im Fall des Hamas-Kommandeurs Aiman Nofal am 17. Oktober sogar »die Tötung von etwa 300 Zivilisten«.

Hintergrund: Krieg exportiert

Im Zeitraum 2019–2023 war Israel der weltweit neuntgrößte Exporteur großer Waffensysteme. Im Fünfjahreszeitraum zuvor stand es noch auf Platz sieben, wie aus den aktuellen Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI hervorgeht. Im Vergleich zum Länderranking nach dem Bruttoinlandsprodukt (Platz 28) und der Bevölkerung (Platz 93) unterstreicht dies den hohen Stellenwert von Rüstungsexporten des kleinen Landes. 2022 summierten sich diese auf mehr als 12,5 Milliarden US-Dollar, so die aktuellsten Regierungszahlen, was einem deutlichen Zuwachs entspricht. Denn Anfang des Jahrtausends schwankte diese Zahl noch zwischen 2,5 und vier Milliarden Dollar jährlich.

Die größten Empfänger israelischer Waffen sind Staaten aus dem Asien-Pazifik-Raum und aus Europa. Mit Deutschland wurde im November der Vertrag über die Lieferung des Raketenabwehrsystems »Arrow 3« im Wert von 3,6 Milliarden Euro geschlossen, Israels größter Rüstungsdeal aller Zeiten. Seit 2021 exportiert Tel Aviv auch in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sowie nach Marokko und Bahrain – Staaten, mit denen es zuvor die »Abraham-Abkommen« genannten diplomatischen Anerkennungsverträge geschlossen hatte. Auf diese drei Länder zusammen entfielen in jenem Jahr neun und 2022 bereits 25 Prozent aller israelischen Waffenexporte. In der Kritik stehen hier vor allem Rüstungsgeschäfte mit den VAE, die ein zentraler Akteur im seit über neun Jahren währenden Krieg im Jemen sind, sowie mit Marokko, das seit Mitte der 1970er Jahre die Westsahara besetzt hält und sich seit November 2020 mit dem Repräsentanten der Sahrauis, der sozialistischen Befreiungsbewegung Frente Polisario, erneut im Krieg befindet.

Verkauft wird an weitere Staaten, in denen grobe Menschenrechtsverletzungen dokumentiert sind, bis hin zu schweren Kriegsverbrechen. Darunter fallen etwa Waffenlieferungen an Südsudan in den Zeiten des blutigen Bürgerkriegs in den 2010er Jahren oder an die Diktatur in Aserbaidschan: Israelische Kamikazedrohnen und international geächtete Streumunition galten als ein wichtiger Faktor in den Kriegen gegen Bergkarabach 2020 und 2023. Auch Myanmar, wo die buddhistische Führung laut Human Rights Watch gegen die muslimische Minderheit ein System der »Apartheid« etabliert hat, wurde über die Jahrzehnte von Israel hochgerüstet: Vor, während und nach den Greueltaten an den Rohingya ab Ende 2017, von den Vereinten Nationen als »Lehrbuchbeispiel für ethnische Säuberung« bezeichnet, verkaufte Israel Waffen an die Militärs. Haaretz schrieb im Oktober 2022 dazu: »Ein mörderischer Bürgerkrieg? Folter? Massaker? Für Israel ist das ein fruchtbarer Boden für Zusammenarbeit.« (jr)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (9. April 2024 um 22:55 Uhr)
    Seit Anfang April gibt es Berichte zu diesem Thema; z. B. sehr detailliert vom israelischen Journalisten und Produzenten Yuval Abraham (https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/). Nun soll also KI für die Ermordung von 40.000 PalästinenserInnen verantwortlich sein. Da sind die israel. Armee und Regierung fein raus; war nicht ihr Fehler. Nur, wenn dem wirklich so wäre, hätte selbst ein Depp nach ein paar Wochen bemerken müssen, dass hier was nicht stimmt, da die zivile Opferzahl proportional viel zu hoch war. Außer, das KI-System wurde so programmiert und mit Daten »gefüttert«, dass es potentiell jede palästinische Person als Feind sieht – das wäre dann auch erneut ein Genozid und Kriegsverbrechen. Kurz, die KI-Argumentation ist absolut irreführend und lenkt die Verantwortung von den eigentlichen Tätern ab.

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