4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 09.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Klassik

Kollateralnutzen des Krieges

Mit Stalinpreis: Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt Ljatoschinskijs 3. Sinfonie
Von Kai Köhler
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Dirigent des Abends: Wladimir Jurowski

Boris Ljatoschinskij (1895–1968) ist im Westen immer noch kaum bekannt. Seit zwei Jahren aber hört man hin und wieder seine 3. Sinfonie von 1951/55. Er wird nämlich als repräsentativer ukrainischer Künstler ins politische Spiel gebracht. Wladimir Jurowski als Dirigent des Abends ließ in einer kurzen Ansprache keinen Zweifel daran, dass es ihm auch um Aktualität ging. Er widmete die Aufführung am Sonntag im Konzerthaus Berlin dem ukrainischen Volk und schloss mit dem in solchen Zusammenhängen kaum mehr vermeidbaren »Slawa Ukraini«.

Das Werk freilich trägt das Motto: »Der Frieden wird den Krieg besiegen« – und das war zur Zeit seiner Entstehung in der Ukraine aktuelle Notwendigkeit, denn der Kampf gegen eine nationalistische Guerilla dauerte nach 1945 noch einige Jahre an. Die Erstfassung der Sinfonie wurde von der Kulturbürokratie abgelehnt. Nach dem dogmatischen ZK-Beschluss gegen »Formalismus in der Musik« von 1948, der fast alle wichtigen sowjetischen Komponisten traf, war das musikalische Vokabular auf äußerste Einfachheit beschränkt. Ljatoschinskijs Dritte war in einer öffentlichen Probe zu hören, wurde jedoch erst 1955 offiziell uraufgeführt, nachdem der Komponist sie mit einem neuen, eingängigeren Finalsatz versehen hatte.

Dabei blieb es für lange Zeit. Noch 1993 wählte das Staatliche Sinfonieorchester der Ukraine für seine Einspielung die effektvolle und melodisch gesättigte spätere Fassung. Das Rundfunk-Sinfonieorchester hingegen spielte die erste Version, die gleichermaßen sieghaft endet, doch mit einem unversöhnlichen, stählernen Triumph. So lässt sich die Härte der Auseinandersetzung wahrnehmen.

Überhaupt klang das Werk unter Jurowskis Leitung um eine Epoche moderner als in der ukrainischen Einspielung. Vielen gleichzeitigen Schichten waren viel besser zu hören. Das gewollt Lärmende der Kriegspassagen war mit schrillen Valeurs der Instrumentierung verknüpft. Man kann einwenden, dass des Schockierenden manchmal etwas zuviel getan war, dass die Differenz zwischen den etlichen sehr lauten und den wenigen ganz besonders lauten Stellen eingeebnet wurde. Dennoch kam die klare Dramaturgie des Werks zum Tragen; politische und musikalische Intelligenz gehen nicht immer zusammen.

So arbeitete Jurowski heraus, wie ökonomisch Ljatoschinskij diese Sinfonie konstruiert hat. Fast alles, was in der Dreiviertelstunde Spieldauer geschieht, geht auf wenige, eingangs vorgestellte Ideen zurück. Deren Umformungen sind für einen einigermaßen aufmerksamen Hörer nachzuvollziehen, und zugleich ergeben sich daraus sehr unterschiedliche und stets plastische Charaktere. Die Forderung der Einheit in der Vielfalt, der Vielfalt in der Einheit, ist hier beispielhaft erfüllt. Tatsächlich handelt es sich um eine Sinfonie, die den Gattungsbeiträgen Schostakowitschs und Prokofjews an die Seite zu stellen ist.

Was aber ist daran ukrainisch? Die Biographie des Stalinpreisträgers Ljatoschinskij kann kaum dafür herhalten. Seit seinem Studium unterrichtete er am Konservatorium in Kiew, als Vierzigjähriger wurde er dort Professor. Zwischenzeitlich, und dann kriegsbedingt 1941 bis 1944, lehrte er Instrumentierung am Moskauer Konservatorium. Nach der Befreiung ­Kiews kehrte er dorthin zurück. Er nahm Funktionen im ukrainischen und sowjetischen Komponistenverband wahr, fungierte als Jurymitglied und Ratgeber musikalischer Institutionen. Opposition sieht anders aus. Seine Oper »Schtschors« von 1938 hat den Kommunisten Mikola Schtschors zum Helden, der im Bürgerkrieg 1918 auf bolschewistischer Seite gegen deutsche Besatzer und mit denen verbündete ukrainische Nationalisten kämpfte. Es ist unwahrscheinlich, dass man dieses Werk nächstens auf einer deutschen Bühne sehen wird.

Die 3. Sinfonie bewegt sich stilistisch wie inhaltlich in sowjetischen Bahnen und hätte in anderen Zeiten als dem Jahrfünft nach 1948 kaum zu Problemen geführt. Sie hat einen gesellschaftlich relevanten Inhalt, ist publikumswirksam und inszeniert nach dem bewährten Muster »durch Nacht zum Licht« einen Konflikt, in dem die positiven Mächte das Zerstörerische besiegen. Folkloristisches klingt an, ist aber in der musikalischen Struktur aufgehoben. Ob Ljatoschinskij etwas Russisches oder Ukrainisches aufgegriffen hat, inwieweit dies überhaupt zu unterscheiden ist, kann der westliche Laie nur erahnen. Sicher aber ist, dass regionale Volksmusik zu Sowjetzeiten kein Tabu war: Seinen Stalinpreis erhielt Ljatoschinskij 1946 für das »Ukrainische Quintett«. Wenn man das einmal hier hören könnte, wäre es ein Kollateralnutzen des Krieges. Das gilt auch für die spröderen, konzentrierteren Sinfonien Nummer 4 und 5. Vielleicht löst sich dann die Musik von ihrem aktuellen Zweck.

Das Konzert wird am 18. April 2024 um 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur übertragen

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