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Aus: Ausgabe vom 08.04.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Antifaschismus

Nur noch Symbolpolitik

Wolf Wetzels kritische Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Antifaschismus
Von Ulrich Schneider
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Die treuesten Vertreter des jeweiligen Regierungsstandpunkts? »Antifa« demonstriert gegen Gegner der Coronamaßnahmen (Bern, 12.8.2021)

Wolf Wetzel ist durch zahlreiche Veröffentlichungen, in denen er sich mit neofaschistischer Gewalt wie dem Münchener Oktoberfestattentat oder dem NSU-Komplex beschäftigte und gleichermaßen die Rolle des Staates und seiner Sicherheitsorgane, insbesondere der Geheimdienste kritisch unter die Lupe nahm, hinreichend bekannt. In seinem jüngsten Band versucht er sich an einem Rundumschlag, beginnend mit der Kontroverse um die Coronamaßnahmen über die Rolle der Geheimdienste im Zusammenhang mit den Neonaziverbrechen, um abschließend Überlegungen zur antifaschistischen Praxis zu formulieren.

Wetzel ist kein Beobachter, der mit »guten Ratschlägen« die Bewegungen kritisiert, sondern teilnehmender Aktivist, der für seine Polemik – auch gegen frühere Mitstreiter – bekannt ist. So kritisiert er in dem Band antifaschistische Strukturen als blauäugig und in bezug auf staatliches Handeln mit Illusionen behaftet, und jene, die in der Coronadebatte eine regierungsnahe Haltung an den Tag legten, begreift er als Teil des staatlichen Narrativs. Zwar stellt er in der Polemik gegen das »Hamburger Bündnis gegen rechts« durchaus berechtigte Fragen, geht jedoch selbst zu wenig kritisch mit den bürgerlichen Protesten gegen die Coronamaßnahmen um, die zwar individuelle Freiräume reklamierten, aber keine gesellschaftlichen Lösungen boten.

In den Kapiteln NSU-Komplex, Oktoberfestattentat und »Stay behind« gelingt es Wetzel, an diesen Themen die politische Beziehungsnähe von staatlichen Einrichtungen und faschistischem Terror sichtbar zu machen. Zu Recht verwirft er die staatlichen »Einzeltäter«-Thesen und leitet daraus ab, dass weder »Verfassungsschutz« noch die Bundesregierung gute Ratgeber in Sachen Antifaschismus seien.

Kontrovers dürften seine Überlegungen für die Gegenwart sein. In dem Kapitel »Die Angst des Antifaschismus vor seiner eigenen Idee« kritisiert er die autonome antifaschistische Bewegung, die es nicht vermocht habe, einen eigenen politischen Ansatz gegen die rassistischen Übergriffe in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen – um nur die vier Symbolorte zu nennen – zu entwickeln. Dem »antideutschen« Spektrum bescheinigt er, fast völlig untergetaucht zu sein, während andere Teile der Antifa keinen tragfähigen gesellschaftskritischen Ansatz entwickelt hätten.

In seinem Schlusskapitel fragt er, auf welchem Weg sich die antifaschistische Bewegung befindet und warum es nur um Symbole und Symbolpolitik geht und nicht um die Frage, wie die Linke den antifaschistischen Widerstand begreift. Mit Blick auf die historischen Erfahrungen der Weimarer Republik konstatiert er, dass die Herrschenden sich aktuell keine »Kettenhunde« zur Sicherung ihrer Machtinteressen halten müssten. Er verkennt jedoch aus der Sicht des Rezensenten die Funktion der AfD, wenn er lapidar bemerkt, dass man die von dieser Partei ausgehende Gefahr als »halbwegs gering« einschätzen könne. Und so ist dieser Band zwar anregend, und Wetzel stellt oft richtige Fragen, kann aber nur im Ansatz überzeugen.

Wolf Wetzel: Der Anti-Antifaschismus. Antifa, angebliche Nazis, rechtsoffener Staat und geheimdienstliche Neonazi-Verbrechen. Verlag Hintergrund, Berlin 2023, 120 Seiten, 14,80 Euro

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  • Leserbrief von Ernst Blutig aus Würzburg (8. April 2024 um 18:01 Uhr)
    Das Problem ist nicht das Label Antifa, es ist die Entwicklung hin zu einer nicht mehr im linken Antikapitalismus verwurzelten Bewegung, die ja sowieso schon nie eine homogene war. Das hätten die rechten Deutschen ja gerne, dass das alles völlig analysefrei und kritiklos über einen Kamm geschoren werden kann, um die Antifa zu entsorgen. Man könnte an etlichen Indizien sogar die Hypothese aufstellen, dass die Antifa prokapitalistisch sei, was den etwas naiven Umgang mit der Coronapolitik der herrschenden Klasse erklärt. Das Dilemma dieser Coronajahre war nicht, dass die eine Seite Recht hatte und die jeweils andere nicht, sondern dass auf einem gesellschaftlichen Hintergrund eines »die Rechte kämpft gegen eine Rechtsextreme« das beiderseitige Einverständnis gab, dass der Laden weiterlaufen sollte, die Mark gemacht werden muss, der Mehrwert und der Profit geschützt. Not gegen Elend, alte Sozialisten gegen Nationalsozialisten. Den Herrschaftsformen hat es gefallen, es war nichts (!) zu befürchten und es herrschte wieder mal gründlich die deutsche Nichtaufklärung in Politik, Medien, Wissenschaft und Pseudorevolution.

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