Wechsel gefordert
Von Anne Herbst, Tel AvivIn Israel werden die landesweiten Proteste gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu größer und wütender. Am Sonnabend abend versammelten sich allein in Tel Aviv nach Schätzungen der Initiatoren 100.000 Demonstranten (protestiert wurde auch in anderen Städten, wie Haifa, Beerschewa und Herzlia, in Jerusalem zogen viele Menschen vor die Privatvilla des Premiers). Vor dem israelischen Verteidigungsministerium an der Eliezer-Kaplan-Straße forderten die Massen lautstark den sofortigen Rücktritt von Netanjahu und seinem Kabinett. »Es reicht jetzt, die Leute haben genug!« sagt Bar Bakula, Sprecher der Gruppe »Dor Shinuy« (Generation der Veränderung), einer der Organisatoren der Großkundgebungen aus dem Lager der Liberalen, im Interview mit jW. Die Regierung sei verantwortlich, dass es nach sechs Monaten immer noch keinen »Geiseldeal« gebe. »Die herrschende Politik hier ist verkommen – es muss dringend ein Wechsel her.«
Die Angehörigen der in den Gazastreifen Verschleppten sind zunehmend verzweifelt und erheben schwere Vorwürfe gegen den Premier: »Netanjahu will die Geiseln gar nicht nach Hause bringen. Sie müssen den politischen Preis zahlen«, meint Yifat Kalderon, deren Cousin Ofer noch in Gefangenschaft ist, nachdem dessen zwei Kinder im November freigelassen worden sind. Kalderon berichtet von Versuchen der Regierung, die Gemeinschaft der betroffenen Familien zu spalten, Konflikte zwischen ihnen zu schüren und den Leuten Angst zu machen. »Einige kommen nicht zu unseren Protesten, weil sie fürchten, dass sie ihre Angehörigen dann nicht wiedersehen werden.«
Linke Organisationen riefen auch zum Widerstand gegen den Gazakrieg auf und kritisierten die jüngste Eskalation mit Teheran: »Diese Woche hat die israelische Regierung einen iranischen General in Damaskus töten lassen. Wohin wird das führen?« so eine rhetorische Frage von Dov Khenin, ehemaliges Mitglied der Knesset von der sozialistischen Listenverbindung Chadasch, der heute Vorstandsmitglied von »Standing Together« ist. Die jüdisch-arabische Graswurzelbewegung hatte kurz vor der Großdemonstration eine Kundgebung auf dem Cinematheque-Platz abgehalten. »Diese Politik könnte Israel und die Region in einen weitaus verheerenderen Krieg stürzen als den, den wir derzeit erleben«, so Khenin weiter. »Das ist das Ergebnis einer rücksichtslosen, abenteuerlustigen und geistesgestörten Regierung, der jegliches Gewissen fehlt.« Shahd Bishara, eine der führenden Köpfe von »Standing Together« erinnerte daran, dass es eines radikalen Politikwechsels bedarf: »Wir brauchen Gleichberechtigung für alle – eine Gesellschaft, in der arabisches Leben nicht weniger zählt.«
Am späten Abend zündeten Demonstranten Feuer an und blockierten den Verkehr. Tausende zogen vor die Zentrale der Histadrut, Aktivisten schütteten Beutel mit Kunstblut vor dem Eingang aus und skandierten: »Arnon Bar-David, geh endlich auf die Straße!« Der Vorsitzende des Dachverbands der zionistischen Gewerkschaften hatte bereits im Februar angekündigt, die Forderung nach Neuwahlen aktiv zu unterstützen. Nun will die Protestbewegung endlich Taten sehen – sie verlangt einen nationalen Generalstreik (einen eintägigen hatte es im März 2023 gegeben, aber danach war nichts mehr geschehen).
Die Polizei ging mit einer Reiterstaffel gegen die Masse vor und löste sie schließlich auf. Dass die Nerven blank liegen, zeigt ein Zwischenfall, der sich vorher ereignet hatte: Ein Autofahrer, mutmaßlich ein Netanjahu-Anhänger, gab nach einem heftigen Wortgefecht mit Demonstranten plötzlich Gas, raste durch die Menge und fuhr fünf Menschen um. Sie mussten mit leichten bis schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden.
»Das ist das Resultat des massenhaft verbreiteten Hasses und der Aufwiegelung durch die Regierung und den Staat«, sagt Jonathan Rabinovich von der kommunistischen Jugendorganisation Mesarvot (Wir verweigern). »Wir brauchen die jüngere Generation, die die Nase voll hat von den Lügen des Krieges und endlich Frieden und Befreiung von endlosem Tod und Zerstörung durchsetzen kann.« Rabinovich zieht eine positive Bilanz der vergangenen Protestwoche: »Die Kundgebungen sind wieder so groß wie vor dem 7. Oktober. Das ist ein riesiger Erfolg.«
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