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Aus: Ausgabe vom 06.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Edward ohne Scherenhände

Diese untote Zukunft: Klez.e träumen alte Gruftieträume
Von Michael Sommer
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»Und dann streckt das Erinnern an den Schulhof mich hin« – Klez.e

»Vielleicht weiß ich ja, wo das hier hinführt / Ich verirre mich mit euch«, singt Tobias Siebert gleich im ersten Song der neuen Klez.e-Platte »Erregung«, der dann auch genauso heißt. Und ganz schnell verirren wir uns mit ihm in der Zeit. Ist es jetzt der Kriegswinter 2023, der zum Kriegsfrühling 2024 wird, oder sind es doch die 1980er Jahre des Kalten Krieges, und die Grufties und Punks hängen am Alexanderplatz, Berlin, Hauptstadt der DDR, ab und feiern ihre No-future-Haltung als Widerstand?

Denn es ist ja so: Das Hier und Jetzt erweist sich als angstbeladener Zustand, das ist es, was die heutige mit der damaligen Zeit verbindet. Und schon damals galt so etwas wie Zukunft als untot.

Musiker und Produzent Siebert, der auch das Soloprojekt And The Golden Choir betreibt und mit Phillip Boa und Slut gearbeitet hat, erzählte im Radio-eins-Interview im Februar, dass er selbst Ende der 80er/Anfang der 90er einer der Schwarzgekleideten war und sagt: »Ich wollte das nie verlieren, dieses Lebensgefühl.« Man hatte sich eingerichtet in der Nische. Mit der »Wende« sei der Kalte Krieg weg gewesen, aber jetzt kehre eine Phase der Aufrüstung zurück.

Möglicherweise ist das aktuelle Klez.e-Album, so nostalgisch es sich auch an The Cure und anderen Gothic-Wave-Bands orientiert, dann eben doch ganz aktuell in der Beschreibung dieses unausweichlichen Gefühls der Verzweiflung. »Und das Schubsen war nicht nur eine Phase. Es war ne ganz klare Haltung gegenüber der Liebe und Einsamkeit«, bellt Siebert. Und wir tauchen mit ihm noch tiefer hinab ins längst schon Verdrängte: »Und dann streckt das Erinnern an den Schulhof mich hin / bringt mich immer und immer zurück auf Beginn.«

Es ist eine geballte Ladung Weltschmerz, die da über uns hinwegrollt. Bollernde Toms, verhallte Gitarren und diese immer am Innenohr polkenden Bässe, dazu der schmerzhafte Gestus des Sängers, den er mit Robert Smith von The Cure teilt – in Klez.e-Songs ist es düster wie in einem Bärenarsch. Sucht euch die Lichtblicke selbst in dieser miserablen Zeit.

»Erregung« ist bereits das fünfte Studioalbum von Klez.e. Wer soundmäßig eine Referenz sucht, erinnere sich an den Cure-Song »Charlotte Some­times«. Hier scheint angelegt, was Klez.e (Siebert mit Daniel Moheit und Filip Pampuch) für heutige Ohren neu buchstabieren. The-Cure-Alben wie zum Beispiel »Disintegration« von 1989 sind allerdings deutlich verspielter als ein Klez.e-Album. Dafür kommen Klez.e eher auf den Punkt.

In ihren Videos finden sie dazu die passenden Bilder: Im Clip zu »Erregung« stapft Siebert über Brandenburger Felder (er selbst ist mittlerweile mit seinem Studio aus Berlin weggezogen), um dann in einem Dorfklub mit Senioren Tischtennis zu spielen. Mit seiner Frisur und seiner schwarzen Kluft sieht er dabei gerade so aus wie Edward ohne Scherenhände. Aber natürlich erwähnt er so auch dieses Generationending, die ganzen unbeantworteten Fragen zwischen ihnen und uns. Die »Unberatenen« hat Filmemacherin Dörte Grimm einmal die Altersgruppe genannt, die durch die »Wende« fiel wie durch eine Falltür mitten hinein in die Freiheit. »Doch ohne Geld keine Angst, wie schon Herr Spechtl laut schrie«, singt Siebert.

Im Video zu »Mr Dead and Mrs Free« wandeln die Klez.e-Musiker angemessen orientierungslos durch eine Geisterbahn. Und da ist er auch wieder, der textliche Bezug zur Zeit der sogenannten Wende: »Und woher hätten wir es denn wissen sollen / hast du damals gefragt.« Auf einmal waren die Zustände, gegen die man irgendwie aus Prinzip und Verzweiflung angelebt hatte, weg. Weiter im Text: »Und wieso hätten wir es denn ändern sollen?«

Siebert ist im Osten geboren, und Klez.es Musik hat offensichtlich viel mit der DDR zu tun, da sie sich immer noch budenzaubermäßig all das herbeizurufen sucht, was es damals nicht oder teuer unter der Hand gab. Die Musik von The Cure, den Sisters, Joy Division et cetera. Fantum nicht von der schlechtesten Sorte. Nicht grundlos geht es dann im oben erwähnten Song »Mr Dead und Mrs Free« auch um die Platten, die man dann nach dem Mauerfall in dem gleichnamigen Plattenladen in der Westberliner Bülowstraße kaufen konnte.

Aber kann das funktionieren, dieser Reset mittels Gitarre, Drums und Bass und den ganzen Beschwörungsformeln, die Siebert aufruft? Mehr als Risse tun sich nicht auf.

Klez.e: »Erregung« (Windig/Cargo)

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