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Aus: Ausgabe vom 05.04.2024, Seite 12 / Thema
Agrarindustrie

Unter aller Sau

Verbraucher fordern mehr Tierwohl. Was können Tierwohllabel und Tierwohl-Cent beitragen? Zum Status quo der Massentierhaltung
Von Michael Kohler
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Guten Appetit. Schnitzel, Currywurst, Braten … 48 Millionen Schweine konsumieren die Deutschen pro Jahr (halbierte Schweine in einem Schlachthof in Niedersachsen, 4.2.2019)

Die Tierwohlabgabe ist tot. Ob sie wiederbelebt wird, ist noch völlig offen. 2020 war das Konzept von dem von Cem Özdemirs (Bündnis 90/Die Grünen) Vorgängerin Julia Klöckner (CDU) eingerichteten »Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung«, besser bekannt als Borchert-Kommission, vorgelegt worden. Deren Mitglieder kamen aus der Landwirtschaft, dem Umwelt- und Tierschutz, der Wissenschaft und dem Verbraucherschutz. Um das verheerende Image der Tierindustrie aufzumöbeln, sollte die Kommission Maßnahmen erarbeiten, um sowohl das Tierwohl zu fördern als auch die Umweltbelastungen der industriellen Fleischproduktion zu senken. Dazu schlug sie unter anderem eine Abgabe von 40 Cent pro Kilo Fleisch vor, um damit Tierhalter beim tierfreundlichen Umbau ihrer Ställe finanziell zu unterstützen.

Nichts davon wurde unter Angela Merkel umgesetzt, der Ampelkoalitionsvertrag enthielt dann relativ umfängliche Ausführungen zu einer Reform der Nutztierhaltung. Die wichtigsten Punkte waren: verpflichtende Tierhaltungskennzeichnung mit Informationen zu Haltung, Transport und Schlachtung, Unterstützung der Landwirte beim Umbau zu einer artgerechten Tierhaltung, ein Glyphosatverbot bis spätestens Ende 2023 sowie ein Verbot von Qualzucht und Anbindehaltung. Vom Tierwohl-Cent war hier nicht mehr die Rede, der Umbau der Tierhaltung sollte über den Markt finanziert werden.

Im Spätsommer 2023 beschloss die Borchert-Kommission resigniert ihre Selbstauflösung. Die politischen Voraussetzungen, um die Empfehlungen umzusetzen, seien »weder in der vorherigen Legislaturperiode noch in den ersten zwei Jahren der laufenden Legislaturperiode geschaffen« worden. Letzter Auslöser der Selbstauflösung war, dass der von Christian Lindner (FDP) für 2024 vorgelegte Haushaltsentwurf überhaupt keine Erhöhung der Mittel für einen tier- und umweltfreundlichen Umbau der Landwirtschaft aufwies.

Vor allem aus taktischen Gründen wurde nun – nach Beginn der Bauernproteste – der seinerzeit versandete Tierwohl-Cent in einer zurückgestutzten Version wieder in die Diskussion gebracht. Bis zur Streichung der Agrarsubventionen war es Özdemir gelungen, das Amt unauffällig und auch in bestem Einvernehmen mit dem Chef des Bauernverbands, Joachim Rukwied (CDU), auszuüben. Es gilt als offenes Geheimnis, dass Özdemirs persönliche Priorität darin besteht, im Frühjahr 2026 in Baden-Württemberg die Nachfolge des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) anzutreten und deshalb bundespolitisch möglichst unter dem Radar zu fliegen. Um nicht doch noch eine Beschädigung zu riskieren, sollte er aber die Traktoren von der Straße bekommen.

Zu diesem Zweck zeigte Özdemir sich zunächst verständnisvoll und solidarisch. Die Bauern hätten gute Gründe für ihre Proteste, und er selbst sei vor den Kürzungen auch nicht gefragt worden. Dass sie teilweise zurückgenommen wurden, sei sein Verdienst. Die von ihm eingebrachte Tierwohlabgabe käme den Tierhaltern zugute, also den Betrieben, denen es momentan am schlechtesten geht. Kurzgefasst, bietet er folgenden Deal an: Ich gebe Tierhaltern die Erlöse aus der Tierwohlabgabe, dafür akzeptiert ihr die eh schon halbierte Kürzung beim Agrardiesel. Der meist als Bauernchef bezeichnete, jedoch faktisch eher als Lobbyist der Agrarindustrie tätige Joachim Rukwied indes bleibt knallhart: Die Kürzung bei Agrardiesel muss komplett vom Tisch, vorher reden wir über nichts anderes. Rein wirtschaftlich betrachtet ist dieser Standpunkt nicht rational. Denn obwohl die Höhe der Tierwohlabgabe noch nicht festgelegt ist und wohl eher auf zehn als auf 40 Cent hinauslaufen wird, wären die den Tierhaltern zukommenden Einnahmen voraussichtlich wesentlich höher als die Verluste durch die Halbierung der Agrardieselsubvention. Außerdem würden die faktische Aussetzung der Stromsteuer für Agrarbetriebe ab Januar 2024 und die beschlossene skandalöse Aufhebung der Stillegungsverpflichtung von vier Prozent der Agrarfläche den Betrieben ein vielfaches dessen bringen, was ihnen durch den Wegfall der Spritsubventionen entgeht. Zudem lässt sich kein einziger wirtschaftlich bedrohter Betrieb durch billigen Diesel retten. Rukwieds wiederholte Aussage, dass es beim Agrardiesel um die Existenz vieler Betriebe gehe, ist reine Rhetorik. Es geht nicht wirklich um Agrardiesel, es geht um Macht, die bei den auf der Tagesordnung stehenden agrarpolitischen Fragen ausgespielt werden soll.

Bei den aktuellen Auseinandersetzungen um Agrardiesel, EU-Subventionen, Tierwohl-Cent, Tierwohllabel, Tierhaltung, Tierschutzgesetz, Umweltauflagen, sogenanntem fairen Handel und manch anderem bewegen sich viele Akteure auf dem Spielfeld: Agrar- und Finanzministerium, Ampelregierung und Opposition, in vielerlei Hinsicht heterogene Agrarbetriebe, ebenfalls heterogene Verbraucherverbände und Vertreter von Klima-, Umwelt- und Tierschutzorganisationen, mächtige Agrar-, Chemie-, Pharmazie-, Maschinenbau- und andere Konzerne. Last but not least geht es um das Leben und Sterben der mehr als 310 Millionen Landwirbeltiere (also ohne Fische und andere Wassertiere), die in Deutschland als Nutztiere gehalten werden. Mindestens neun von zehn von ihnen in Massentierhaltungen.

Systematisches Leid

In einem heimlich in einer Schweinemastanlage aufgenommenen Film tritt ein Arbeiter minutenlang auf eine Muttersau ein und reißt an ihrem Schwanz. Da sie es nicht schafft, aufzustehen, wird sie mit einem Bolzenschuss in den Kopf betäubt und mit einem Schnitt in den Hals getötet. Ihr Todeskampf dauert mehrere Minuten. In einer anderen Aufnahme nimmt ein Schweinezüchter ein vor wenigen Tagen geborenes Ferkel aus der Mastbucht, packt es an den Hinterbeinen und schlägt es so lange gegen einen Pfosten, bis es sich nicht mehr bewegt, dann wirft er es in eine Tonne zu anderen toten Ferkeln. Ein weiterer Film zeigt ein totes Schwein in einer Mastbucht, das halb von den eigenen Artgenossen aufgefressen wurde. Ein weiteres angefressenes Schwein findet sich in der Kadavertonne. Andere Tiere zeigen unbehandelte Abszesse und Infektionen am Bauch. Der Mastbereich ist extrem verschmutzt, der Betreiber jedoch bezeichnet in Werbevideos seinen Betrieb als »Stallhaltung 4 plus«.

Seit etwa 15 Jahren stellen Tierrechts- und Tierbefreiungsorganisationen solche Aufnahmen – nicht nur aus der Schweinezucht – fortlaufend ins Netz. Sie nennen sich Peta, Ariwa (Animal Rights Watch), Animal Equality, Soko Tierschutz, Metzger gegen Tiermord e.V. usw. Spiegel, »Report Mainz«, »ZDF frontal« und andere Medien haben die Aufnahmen mehrfach für ihre Sendungen verwendet. Das Motiv für die verstörenden Handlungen ist in der Regel weder Sadismus noch, wie es das Tierschutzgesetz als Strafvoraussetzung formuliert, eine »gefühllose und fremdes Leiden missachtende Gesinnung«. Es ist vielmehr eine in sich rationale betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Kalkulation. Wo Tiere eine Ware sind, wird systemisches Tierleid zum Normalzustand.

Konkret bedeutet das etwa für Mutterschweine folgendes: Durch Überzüchtung und viele Geburten leiden sie häufig an einem Gebärmuttervorfall, der ihnen das Gehen erschwert. Das Tier wird dann geschlagen, um zu prüfen, ob es noch aufstehen kann. Erst wenn die Sau dafür keine Kraft mehr hat, wird sie getötet. Sie soll ja noch möglichst lange Ferkel säugen. Kranke oder verletzte Ferkel bis zur »Schlachtreife« zu mästen, ist nicht rentabel, deswegen werden sie umgehend getötet. Zwar sind die geschilderte Tötungsart und auch die Tötung an sich zweifelsfrei krasse Verstöße gegen das Tierschutzgesetz, aber sie sind kostengünstig und zeitökonomisch. Die Tiere nicht oder anders zu töten, würde einen unzumutbaren Konkurrenznachteil darstellen.

Wenn sogenannte Nutztiere grausam getötet oder durch unterbliebene medizinische Behandlung einem langsamen und qualvollen Sterben überlassen werden, handelt es sich weder um Ausnahmen noch um Einzelfälle. Eine Studie stellte 2017 anhand der Daten deutscher Tierkörperbeseitigungsanlagen fest: Pro Jahr werden etwa 14 Millionen Schweine angeliefert, die starben oder getötet wurden, bevor sie das sogenannte Schlachtalter (bei Mastschweinen fünf bis sechs Monate) erreicht haben. Über ein Fünftel der in Deutschland lebend geborenen Ferkel stirbt vorher. Diese »Falltiere« werden auch von den amtlichen Kontrollen am Schlachthof nicht erfasst. Eine Studie der tierärztlichen Hochschule Hannover ergab, dass zirka zwei Dritteln von ihnen vor ihrem Tod »unnötige Schmerzen und lang anhaltende Leiden« zugefügt wurden. Hier muss angefügt werden, dass auch die 47 Millionen Schweine, die das sogenannte Schlachtalter erreichen, ein grausamer Erstickungstod durch CO2 erwartet. Aufnahmen durch Kameras, die in den zur Tötung verwendeten Drahtgondeln heimlich angebracht wurden, konnten dies gegen alle gegenteiligen Behauptungen eindrücklich beweisen. Forderungen von Tierärzten, der tierärztlichen Hochschule und vielen Tierschutz- und Tierrechtsverbände, zumindest die Herkunft der vorzeitig gestorbenen oder getöteten »Falltiere« nachvollziehbar zu machen, wurden bisher hartnäckig ignoriert. Auch der jetzt vorgelegte Entwurf zu einer Reform des Tierschutzgesetzes sieht Kameras in den Schlachthöfen vor, nicht aber in den Mast­anlagen und bei Transporten, wo wohl die Mehrzahl der Verstöße stattfindet.

Auch wenn heimlich erstellte Filmaufnahmen das Leiden sogenannter Nutztiere immer wieder sichtbar machen – der tatsächliche Alptraum liegt in den Zahlen. Zwischen 1961 und 2023 steigerte sich die jährliche Fleischproduktion global von 61 auf 364 Millionen Tonnen. Weltweit werden jährlich 66 Milliarden Landtiere geschlachtet, dazu kommen 787 Milliarden Fische und andere Meeresbewohner, ohne illegal gefangene und Beifang. Allein in Deutschland werden jährlich mehr als 750 Millionen Landwirbeltiere getötet.

Agrarindustrieller Komplex

Produktionsbedingungen und Umsätze vor allem tierischer Lebensmittel haben sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental geändert. Nicht nur die Agrarwirtschaft, sondern auch etliche weitere hochkapitalisierte Branchen aus den Bereichen Zulieferung, Weiterverarbeitung, Vertrieb und Verkauf sind an dem Aufstieg beteiligt. Im Rahmen der kapitalistischen Wachstumsgesetze errang der agrarindustrielle Komplex in seinem Ausbeutungskrieg gegen die Natur und die Tiere sagenhafte Siege. Sie ermöglichten ihm, seine ökonomische und politische Macht enorm zu steigern. Der sogenannte Bauernchef Joachim Rukwied ist in Deutschland ihr mächtigster Lobbyist. Das Fernsehmagazin »Monitor« recherchierte 2020, dass er mindestens acht vergütete Mandate in Aufsichts- und Verwaltungsräten innehat. Dazu gehören die Baywa AG, die Südzucker AG, die Messe Berlin GmbH, das Softwareunternehmen Land-Data GmbH (als Aufsichtsratsvorsitzender), die Landwirtschaftliche Rentenbank (die deutsche Förderbank für die Agrarwirtschaft und den ländlichen Raum) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).

Die Entwicklung der Baywa AG kann veranschaulichen, wovon hier die Rede ist. 1923 gegründet, beschäftigte sie sich zunächst damit, die Landwirtschaft durch den kostengünstigen Einkauf von Produktionsmitteln und die gewinnbringende Vermarktung von Erzeugnissen zu unterstützen. Während des Nazifaschismus spielte sie eine herausgehobene Rolle bei der »Sicherung des Reichsnährstandes«. Der Strukturwandel der Landwirtschaft ab den 1950ern ermöglichte die Ausweitung des Angebots auf Landmaschinen, vor allem Schlepper, Mähdrescher, Häcksler und Melkmaschinen, sowie auf »Kraftfutter« für die Tiermast. Gleichzeitig stieg die Baywa im Zuge des Immobilienbooms in den Verkauf von Baustoffen ein und eröffnete Bau- und Gartenmärkte. 1959 überschritt der Umsatz eine Milliarde D-Mark, zehn Jahre später waren es bereits mehr als zwei Milliarden. Nochmals neue Geschäftsfelder kamen in den 1980er Jahren in den Bereichen Umweltschutz und Elektronik hinzu. Nach dem Mauerfall errichtete die Baywa Standorte in den neuen Bundesländern. Mitte der 1990er Jahre weitete sie ihre Aktivitäten auf Österreich und fünf osteuropäische Länder aus. 1999 wurden mehr als zehn Milliarden D-Mark umgesetzt. Ende der 2000er Jahre wurde im Rahmen umfassender Restrukturierungen ein Geschäftsfeld für erneuerbare Energieträger gegründet, das mittlerweile den größten Anteil zum Konzerngewinn beiträgt. Zudem wurde in Europa und in Asien die Position im globalen Agrarhandel ausgebaut. In den 2010er Jahren wurde die Baywa AG zu einem wichtigen Marktteilnehmer im sogenannten Digital Farming. Mit 21.000 Mitarbeitern erzielte sie 2022 einen Umsatz von 27 Milliarden Euro.

Höfesterben

Während der Jahre, in denen sich der Umsatz der Baywa von weniger als einer Milliarde ­D-Mark auf 27 Milliarden Euro steigerte, meldeten 94 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe Konkurs an oder gaben mangels Perspektive auf. Die Kleinen wurden von den Großen gefressen. Die Intensivierung der Landwirtschaft durch Industriedünger, Pflanzenschutzmittel und Massentierhaltung, die Spezialisierung auf Monokulturen und die Mechanisierung durch Traktoren, Mähdrescher usw., außerdem die Digitalisierung vieler Teilbereiche beschleunigten den gewaltigen Konzentrationsprozess. Von 4,7 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben 1950 waren 2020 nur noch 264.000 übrig. Das Höfesterben dauert unvermindert an. Allein in den letzten 25 Jahren verschwand die Hälfte der Betriebe. Die pro Betrieb bearbeitete Fläche wuchs indessen von durchschnittlich 2,9 auf 68 Hektar. Fachleute meinen, perspektivisch seien nur Betriebe mit mehr als 100 Hektar rentabel. Die Zahl der Beschäftigten sank von vier Millionen auf 500.000. Diese für die Masse der Bauern und ihre Familien bis heute niederdrückende Entwicklung war und ist nicht nur die Folge kapitalistischer Gesetze, sie wurde konsequent und beständig von der Politik gestützt und vorangetrieben. Dies galt und gilt für Bonn, für Berlin und für Brüssel, vor allem aber auch für den Deutschen Bauernverband. An vorderster Front wirkend hämmerte er jahrzehntelang seinen Mitgliedern ein, dass die Alternative »Wachse oder weiche!« schicksalhaft sei und unterstützte sie entweder in die eine oder in die andere Richtung.

Ein grundlegendes Problem landwirtschaftlicher Betriebe ist der schwindende Anteil der Erzeugerpreise am Verkaufserlös. Er ist von 63 Prozent 1950 auf 21 Prozent 2020 gesunken, also um genau zwei Drittel. Allein in den letzten 40 Jahren hat sich dieser Anteil halbiert. Habituell wird hierfür der angeblich bei Lebensmitteln geizende deutsche Verbraucher verantwortlich gemacht. Was dabei taktvoll verschwiegen wird: Es sind nicht die Verbraucher, sondern die großen Einzelhandelskonzerne, die die Verkaufspreise landwirtschaftlicher Produkte aushandeln, genauer gesagt: diktieren. Dem Ruin der meisten landwirtschaftlichen Betriebe entsprach der märchenhafte Siegeszug der großen Einzelhandelskonzerne. Der reichste Deutsche ist Dieter Schwarz, Eigentümer der Schwarz-Gruppe, zu der Lidl und Kaufland gehören. Sie ist eine der weltweit führenden Handelsgruppen mit 575.000 Mitarbeitenden in 32 Ländern und einem Umsatz von 154 Milliarden Euro 2022. Das Vermögen von Dieter Schwarz stieg allein von 2021 auf 2022 um über zehn Milliarden US-Dollar auf geschätzte 47,1 Milliarden.

Unter diesen Prämissen und in Verbindung mit der niemals endenden Arbeitsbeanspruchung findet der seit Generationen andauernde, meist chancenlose Überlebenskampf vieler kleinerer Bauern gegen überlegene Konkurrenten statt. Er führt unvermeidlich zu schweren seelischen und gesundheitlichen Risiken. Auch der im Kapitalismus nun mal nicht auflösbare Widerspruch zwischen Rentabilität auf der einen und Tierwohl, Umwelt- und Klimaschutz auf der anderen Seite geht vielen gewaltig auf die Psyche. Die ZDF-Dokuserie »37 Grad« ging kürzlich einem erwartbaren, aber dennoch überraschenden Befund nach: 24 Prozent der Landwirte, also fast jeder vierte, zeigen starke Symptome einer klinischen Depression wie gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit und geringes Selbstwertgefühl. Das Erkrankungsrisiko ist bei Landwirten viermal so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

Wie ist nun die aktuelle wirtschaftliche Situation der Landwirtschaft? Hat sie sich wirklich noch mal so dramatisch verschlechtert, wie es den Anschein hat? Nach Einschätzung des Deutschen Bauernverbands keineswegs. Sie hat sich im Gegenteil »in den letzten beiden Jahren erheblich verbessert«. »Mit Ausnahme der Wein- und Obstbaubetriebe konnten von dieser Entwicklung nahezu alle Betriebsformen in unterschiedlichem Umfang profitieren.« Ende 2023 sah Rukwied für die Zukunft der Landwirtschaft zwei Risiken: Erstens seien seit dem Jahreswechsel 2022/23 die Erzeugerpreise im Sinkflug. Und zweitens gehe der Strukturwandel in der Tierhaltung weiter und führe zum Verlust von Arbeitsplätzen, Wertschöpfung und zu weniger Investitionen.

150 Tiere pro Kopf

Schnitzel, Bratwurst, Currywurst, Gulasch und Schweinebraten. Dies ist die Reihenfolge der fünf in Deutschland am häufigsten verzehrten Fleischgerichte. Die Albert-Schweizer-Stiftung ermittelte für das Jahr 2010 folgende erstaunliche Zahl: Von einem Bundesbürger werden jährlich etwa 150 Tiere verspeist. Es handelt sich dabei um etwa 30 Kilogramm Schweinefleisch, 14 Kilogramm Fisch und andere Meerestiere, 13 Kilogramm Geflügel, 10 Kilogramm Rinder- und Kalbfleisch und ein Kilogramm Fleisch von Wildtieren, Schafen und Ziegen. Die Gesamtzahl von zwölf Milliarden Tieren führte bei etwa 80 Millionen Einwohnern zu 150 Tieren pro Kopf. Diese hohe Zahl kam vor allem auf Kosten der Fische und Hühner zustande. Für die einzelnen Tierarten lauteten die Gesamtkonsumzahlen: 5,5 Millionen Rinder und Kälber; 48 Millionen Schweine; vier Millionen Wildtiere, Schafe und Ziegen, 971 Millionen Hühnern, 38 Millionen Enten, 13 Millionen Gänse, 47 Millionen Puten, elf Millionen Fische.

Zwar hat sich seitdem die Menge des konsumierten Fleisches, vor allem des Schweinefleisches, leicht verringert, die Zahl der verzehrten Fische und Hühner jedoch ist gestiegen, der Konsum von Geflügelfleisch stieg sogar um 22 Prozent an, so dass die Größenordnung der 2010 ermittelten Zahl auch heute noch stimmen dürfte. Rein rechnerisch hätte ein fleischfreier Wochentag zur Folge, dass in Deutschland jährlich 1,8 Milliarden Tiere weniger geschlachtet werden. 2023 ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels, dass in Deutschland rund zwölf Prozent der Menschen bereits auf Fleisch verzichten. Wie andere Umfragen zeigen, ist diese Zahl vermutlich leicht übertrieben. Dennoch, fleischfrei zu essen ist trendy. Eine aktuelle Befragung in acht EU-Ländern ergab, dass sich neun von zehn Verbrauchern höhere Tierhaltungsstandards wünschen. Momentan gibt es wohl kein anderes Themenfeld, in dem die tatsächlichen politischen Entscheidungen und die Einstellungen der Menschen so weit auseinander liegen.

Irreführende Kennzeichnungen

Das deutsche Wohnzimmer hat eine durchschnittliche Größe von 25 Quadratmetern. Hat ein Landwirt auf seinem Hof einen gleich großen, fensterlosen Betonraum, darf er darin je nach Gewicht 25 bis 50 bis zu maximal 120 Kilogramm schwere und von ihrer Natur mit einem großen Bewegungsdrang ausgestattete Schweine unterbringen. Die Tiere haben dann je 0,5 bis ein Quadratmeter Platz und »leben« somit in der Haltungsform eins »Stall«. Quetscht er »nur« 22 bis 44 Tiere in den fensterlosen Raum und trennt diesen durch eine Trennwand oder ein Gitter in verschiedene Bereiche auf, darf auf dem Label in der Kühltheke bereits die Haltungsstufe zwei »Stall plus Platz« stehen. Ein Tier hat dann 12,5 Prozent mehr Fläche. Wenn er jetzt noch ein Fenster in die Wand schlägt, das man öffnen kann und nicht mehr als 36 Tiere auf den 25 Quadratmetern unterbringt, leben diese bereits in Stufe drei »Frischluftstall«. Aber Achtung: Diese Bodenflächen können laut Gesetz auch verringert werden, soweit Gründe des Tierschutzes (welche sollten das sein?) nicht entgegenstehen, wobei der gesetzliche Mindeststandard nicht unterschritten werden darf. Also: Vielleicht hat das Schwein aus Stufe drei doch nur einen halben Quadratmeter Platz. Aber dafür kann es zu einem Fenster aufsehen.

Die Analyse des Präsidenten des Deutschen Tierschutzbund Thomas Schröder geriet entsprechend kurz und knackig: »Das Tierhaltungskennzeichnungsgesetz verhilft keinem einzigen Tier zu einem besseren Leben.« Die Bundestierärztekammer kam zum gleichen Schluss: »Der vorgelegte Entwurf bleibt weit hinter den Erwartungen zurück und kann nicht als geeignet zur Erreichung der genannten Ziele angesehen werden.« Das Label sah Maßnahmen für mehr Tierwohl gar nicht erst vor, das vorhandene Angebot wurde lediglich entsprechend formaler Haltungsbedingungen neu einsortiert.

Aldi, Edeka, Netto und Co. führten bereits 2018 eine Haltungsformkennzeichnung ein, die sich von der jetzt gesetzlichen Kennzeichnung nicht wesentlich unterscheidet. Das Konsumverhalten änderte sich durch beide Kennzeichnungen nahezu gar nicht. Nach wie vor beträgt der Marktanteil der Haltungsformen eins und zwei fast 90 Prozent, auch, wie eine Studie zeigte, weil sie von den Einzelhandelskonzernen wesentlich mehr beworben werden. Große Mastbetriebe mit den Stufen eins und zwei dominieren das Angebot, während kleine, biologisch arbeitende Betriebe schließen müssen, mit und ohne Tierwohllabel, mit und ohne Tierwohl-Cent. Das fortgesetzte Scheitern grüner Agrarpolitik ist nicht mehr und nicht weniger als das Scheitern des grünen Kapitalismus.

Michael Kohler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 23. Januar 2024 über Polizeipferde: Vorsicht vorm Reiter!

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