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Aus: Ausgabe vom 05.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Wahl in Türkei

Niederlage für Erdoğan

Türkei: Die regierende AKP scheint bei den jüngsten Kommunalwahlen gegenüber der Opposition erstmals wieder ins Hintertreffen geraten zu sein
Von Emre Şahin
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Anhänger von Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu feiern vor dem Rathaus dessen Wiederwahl (31.3.2024)

Alle haben es mitbekommen: Die AKP hat bei den Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag in der Türkei verloren. Zwar hat die seit 22 Jahren regierende Partei im Nachgang der Abstimmung hier und da Ergebnisse annullieren lassen und Nachzählungen beantragt, doch viel mehr als Ergebniskosmetik ist das nicht. Erstmals seit ihrem Bestehen sind die Islamokapitalisten nur zweitstärkste Kraft des Landes und haben gleich mehrere ihrer Hochburgen verloren. Darf man sich also freuen? Auf jeden Fall. Sollte man sich zu früh freuen? Mitnichten. Bereits bei den vergangenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 war sich die Opposition allzu sicher, dass es klappen würde, Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP abzulösen. Um so größer war die Enttäuschung danach. Um nicht gleich wieder hochmütig zu werden, müssen die Ergebnisse dieser Wahl richtig gelesen werden.

Die AKP hat verloren, aber …

Bis zu den nächsten Wahlen sind es noch vier Jahre, vorausgesetzt, es kommt nicht zu vorgezogenen Neuwahlen oder einem Verfassungsreferendum, um Erdoğan eine weitere Amtszeit zu ermöglichen. Die Achillessehne der AKP ist die Wirtschaftspolitik, vor allem die hohe Inflation bei etwa 70 Prozent. Die Teuerung macht der Bevölkerung enorm zu schaffen, insbesondere den Rentnerinnen und Rentnern. Denn während es bei den Löhnen immerhin den Versuch gibt, sie der Inflation anzupassen, erhalten die meisten Rentner mit 10.000 Lira (288 Euro) monatlich nicht einmal den Mindestlohn, der bei 17.000 Lira (490 Euro) liegt. Sie machen 26 Prozent der Wähler aus und sind am 19. März landesweit auf die Straßen gegangen.

Von islamistisch-oppositioneller Seite war diesmal einer der Hauptkritikpunkte an der AKP der »beschämende Handel mit Israel«. Bei vorherigen Wahlen hat das selten eine Rolle gespielt und hat nun selbstverständlich mit dem aktuellen Vertreibungskrieg Israels gegen die Palästinenser in Gaza zu tun. In islamistischen Kreisen sorgt die Wirtschaftspolitik der AKP gegenüber Israel für Unruhe und bietet Angriffsfläche. Offensichtliche doppelte Standards in der Außenpolitik sind aber nicht bei jeder Wahl gegeben und könnten beim nächsten Mal bereits kein Thema mehr sein.

Die AKP könnte die Außenpolitik zudem auch für eine »nationalistische Welle« nutzen. Unter US-Präsident Joseph Biden war es mit weiteren Besetzungskriegen in Kurdistan schwer, während Bidens Vorgänger Donald Trump Ankara mehrmals grünes Licht für Invasionen in Nachbarländern wie Syrien gab. Je nachdem, wie die Präsidentschaftswahlen in den USA ausgehen, werden sie auch die Regionalpolitik der Türkei beeinflussen. Dann könnten »Kriege gegen Kurden« wieder zum Repertoire vor Wahlen gehören.

Die Kandidatenwahl der AKP war diesmal schlecht. Vor allem die Oberbürgermeisterkandidaten für die beiden größten Städte Istanbul und Ankara, Murat Kurum und Turgut Altınok, waren nicht vom gleichen Schlag wie Erdoğan. Kurum ist ein uncharismatischer Bürokrat und hat sich so viele Patzer im Wahlkampf erlaubt, dass er zu einem Internetmeme geworden ist. Kritisiert wurde er vor allem für die Aussage: »Wenn ich gewinne, werden sich die unterdrückten Menschen in Gaza freuen.« Sein Parteikollege Altınok hat ebenfalls mit einem Ausspruch für Aufsehen gesorgt: Zunächst weigerte er sich, sein Vermögen offenzulegen, bis der Druck zu groß wurde, dann kam raus, dass ihm mindestens sechs Millionen Quadratmeter Land gehörten und er somit Stadtstaaten wie Monaco und Vatikan hinter sich lässt. »Reichtum und Eigentum gehören Gott, wir sind nur die Hüter«, wusste sich Altınok zu verteidigen. Erdoğan kündigte jedenfalls nach dem Wahlabend an, seine Partei werde eine mutige Selbstkritik abgeben. Um sich zu konsolidieren, stehen der AKP weiterhin alle Mittel des Staates zur Verfügung.

Vertrauensvorschuss für CHP

Offensichtlich ist der Wechsel an der CHP-Spitze geglückt und hat der demotivierten Wählerklientel gutgetan. War die kemalistische Oppositionspartei lange eine Ägäis- und Mittelmeerpartei bei um die 25 Prozent, konnte sie diesmal 37,76 Prozent holen und Provinzen weit bis Zentralanatolien sowie an der Schwarzmeerküste gewinnen. Für die Partei bedeutet es einen enormen Vertrauensvorschuss, den sie bis zur nächsten Wahl äußerst gut managen muss, wird doch die AKP sehnlichst auf Fehler warten, die sie ausschlachten kann. Allerdings: Die CHP hat keine ihrer 2019 gewonnen Provinzen an die AKP verloren. Mit Ausnahme von Hatay, wo sie mit Lütfü Savaş denselben Kandidaten aufgestellt hat, der dort seit 2009 regiert und mitverantwortlich für die fehlende Vorbereitung auf die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar 2023 war.

Der wiedergewählte Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu gilt als fast schon sicherer Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen, sollte die Justiz mittels laufender vorgeschobener Verfahren nicht ein Politikverbot gegen ihn erwirken. Auch İmamoğlus Parteikollege Mansur Yavaş, der in Ankara ganze 30 Prozent mehr als die AKP holte, könnte ihm gefährlich werden, auch wenn die Möglichkeit dafür derzeit als gering gilt.

CHP-Chef Özgür Özel bedankte sich am Wahlabend bei allen »kurdischen Demokraten«, die die CHP im Westen des Landes unterstützt haben. Es ist klar, dass die »kurdischen Demokraten« in Zukunft mehr als nette Worte brauchen werden, insbesondere wenn kurdische Rathäuser wieder unter Zwangsverwaltung gestellt werden sollten. Die Vorfälle in Van geben einen ersten Vorgeschmack darauf, was noch bevorstehen kann. Dem Kandidaten der prokurdischen Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (Dem Parti), Abdullah Zeydan, erkannte das Innenministerium trotz seines Sieges rückwirkend die Wählbarkeit ab, ehe der hohe Wahlrat am Mittwoch abend nach zweitägigen heftigen Massenprotesten in kurdischen Städten entschied, dass Zeydan sein Amt doch antreten kann. Es braucht eine CHP, die sich aktiv gegen weitere Repressionen gegen die DEM positioniert.

»Widerstand heißt Leben«

Die Wählbarkeit Zeydans gehörte im Nachgang der Wahl zu den schönsten Nachrichten. Bis zum späten Mittwoch abend kostete das Volk in Van feiernd die Früchte seines erfolgreichen Widerstandes aus und skandierte unter anderem den Slogan der kurdischen Befreiungsbewegung »Berxwedan Jîyan e!« (Widerstand heißt Leben). Zuvor blieben die Geschäfte der Stadt aus Protest geschlossen, es kam zu Straßenschlachten mit den türkischen Besetzungskräften.

Besonders auffällig war an dieser Wahl das hohe Maß an politischem Bewusstsein der Dem-Parti-Wählerschaft. Obwohl die Partei in Istanbul eigene Kandidaten aufgestellt hatte und das von ihr organisierte Newrozfest in der Stadt am 17. März von mehr als 300.000 Menschen besucht worden war, holte die Dem Parti dort nur knapp zwei Prozent. Dabei waren es bei den Parlamentswahlen von 2023, bei denen sie gemeinsam mit einem linken Bündnis angetreten war, noch zwölf Prozent. Die Mehrheit der Dem-Parti-Anhänger dürfte also trotz eigener Kandidaten für İmamoğlu gestimmt haben, um einen Sieg der AKP zu verhindern. Während die Dem-Parti-Spitze noch immer von Friedensverhandlungen mit der Regierung spricht, ohne dass die AKP jemals ernsthaft darauf eingegangen wäre, weiß die Basis der Partei ganz genau, auf welcher Seite sie zu stehen hat.

Islamistische Opposition

Die Neue Wohlfahrtspartei (YRP) gehört unumstritten zu den Wahlsiegern der vergangenen Abstimmung. Sie wurde aus dem Stand drittstärkste Kraft und hat großen Anteil daran, dass die Stimmen der AKP in ihren Hochburgen dahinschmolzen. Was es für Erdoğan so schwierig macht, gegen diese islamistische Partei vorzugehen, ist, dass sie quasi die Wurzel seiner eigenen Partei AKP darstellt. Wie die Regierungspartei kommt auch sie aus der Millî-Görüş-Bewegung von deren Vordenker Necmettin Erbakan sich die AKP einst abgespalten und dessen politisches Ende sie mit eingeleitet hatte. Chef der YRP ist Erbakans Sohn Fatih Erbakan, dem nachgesagt wird, er wolle seinen Vater rächen.

Der YRP-Wahlkampf konzentrierte sich stark auf arme konservative Bezirke, immer wieder setzte sie die AKP von islamistischer Seite unter Druck: Die Partei kritisierte den Handel mit Israel, die NATO-Basis in Kürecik sowie die »unislamische Zinspolitik« der Regierung, und sie forderte mehr Geld für Rentnerinnen und Rentner. Künftig stellt die YRP in Urfa und Yozgat den Bürgermeister. Aber noch wichtiger: Mit sechs Prozent kratzte sie an der landesweiten Siebenprozenthürde für das Parlament. Allen potentiellen Wählern der YRP, die sich aus Sorge um das Scheitern an der Hürde bislang nicht getraut haben, ihr die Stimme zu geben, hat sie mit diesem Ergebnis eine Botschaft gesendet. In der Vergangenheit hat die AKP vor allem versucht, islamistische Parteien – wie beispielsweise die HAS-Partei – für sich einzuspannen. Eine Hoffnung oder fortschrittliche Alternative kann die YRP nicht sein. Ihr Nutzen für die bürgerliche Opposition liegt lediglich darin, die bisherigen Stimmen für die AKP aufzusplittern.

Hintergrund: Wahlergebnis

Das Ergebnis der Kommunalwahl vom 31. März lautet wie folgt: Die kemalistische CHP liegt mit 37,7 Prozent landesweit erstmals seit 47 Jahren auf Platz eins, danach kommt die AKP mit 35,5 Prozent auf Platz zwei, die Neue Wohlfahrtspartei (YRP) mit 6,1 Prozent dahinter und anschließend die linke, vor allem unter Kurden verankerte Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (Dem Parti) mit 5,5 Prozent. Die faschistische MHP erhielt knapp fünf Prozent.

Man kann das Wahlergebnis aber auch anhand der Zahl der gewonnenen Provinzen betrachten: Die CHP regiert künftig in 35 Provinzen, darunter 14 Großstädte; die AKP in 24 Provinzen (einschließlich zwölf Großstädte); die Dem-Parti in zehn Provinzen mit drei Großstädten; die MHP in acht Provinzen; die YRP in einer Großstadt und einer weiteren Provinz und die MHP-Abspaltung Iyi Parti in einer Provinz. Künftig leben von den 85,3 Millionen Einwohnern des Landes mehr als 73 Prozent in Provinzen, die von der Opposition kontrolliert werden. Davon entfallen allein auf die CHP-Städte 53 Millionen Einwohner. Die Exporteinnahmen des Landes beliefen sich im vergangenen Jahr auf 255 Milliarden US-Dollar, von denen allein CHP-Provinzen 203 Milliarden ausmachen. Von den größten Industriestädten Istanbul, Izmir, Adana, Bursa und Kocaeli gewann die AKP ausschließlich letztere. Interessant ist, wo die Zugewinne der CHP liegen: Amasya, Bartın, Giresun und Kastamonu hatte sie seit 1977 nicht mehr gewinnen können, Adıyaman seit 1989 nicht mehr. Afyon, Kırıkkale, Kilis, Kütahya, Uşak und Zonguldak gewann sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte dazu. Die lange Zeit geltende Annahme, die CHP könne Anatolien nicht regieren, sie sei die Partei der »weißen Türken« und dieser als religiös-konservativ geltenden Region fremd, ändert sich.

Ausschlaggebend für das Ergebnis war jedoch auch der Rückgang der Wahlbeteiligung im Vergleich zu den Parlamentswahlen im Vorjahr (88,92 Prozent) um zehn Punkte auf 78 Prozent. Bei den Kommunalwahlen von 2019 lag sie noch bei 84,6 Prozent. Mit Ausnahme der Kommunalwahlen von 2004 (da lag sie bei 70 Prozent) weist die aktuelle Wahl die niedrigste Beteiligung seit langem auf. Von mehr als 61 Millionen Wahlberechtigten gaben nur 48 Millionen ihre Stimme ab.

Besonders verheerend für die inoffizielle Regierungskoalition aus AKP und MHP: Gemeinsam hatten sie bei den Parlamentswahlen etwa 27 Millionen Stimmen erhalten, nun aber sind es nur noch 18,5 Millionen. Da hat es offensichtlich auch wenig gebracht, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei Auftritten das Publikum dazu aufrief: »Wenn Sie Verwandte in Istanbul haben, bitte rufen Sie sie an, damit sie für uns stimmen.« (es)

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