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Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Comic

Durch Kerkermauern

Zum 75. Geburtstag: Eine Graphic Novel über Leben und Denken von Abdullah Öcalan
Von Nick Brauns
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Der erste Parteikongess der PKK nach ihrer Gründungsversammlung fand 1982 im syrischen Exil statt

Sie sind besonders mutig oder nahezu unverwundbar, sie haben Bärenkräfte oder können klettern wie Spinnen, sie verfügen über außergewöhnliche Intelligenz oder ausgefeilte technische Hilfsmittel: Superhelden mit besonderen Fähigkeiten kämpfen in Comic und Film seit fast einem Jahrhundert gegen das Böse. Auch der Akteur eines gerade neu erschienenen Comics hat eine solche Superheldenfähigkeit: Er vermag Millionen Menschen durch Kerkermauern hindurch in Bewegung zu versetzen und so Ideen in materielle Gewalt zu verwandeln. Die Rede ist von Abdullah Öcalan. 25 Jahre nach seiner Verschleppung in türkische Haft gilt der Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als strategischer Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung und Schlüsselfigur für eine Friedenslösung.

Der schottische Autor Sean Michael Wilson – bekannt etwa durch sein 2016 mit dem bronzenen International Manga Award ausgezeichnetes Werk »Secrets of the Ninja« – und der kurdische Zeichner Keko haben sich für die erste Graphic Novel über Leben und Denken Öcalans zusammengetan. Die deutschsprachige Ausgabe der illustrierten Biographie ist beim Münsteraner Unrast-Verlag erschienen, der bereits Öcalans umfangreiche Gefängnisschriften verlegt.

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Kindheit und Jugend Öcalans lernen wir in seinen eigenen Worten kennen. Prägende Erfahrungen für den 1949 in der südostanatolischen Provinz Urfa geborenen Bauernsohn, der offenbar bereits als Kind gegen feudale Strukturen auf dem Dorf rebellierte, waren etwa die Zwangsverheiratung seiner Schwester, aber auch der erste Schultag: »Mein Bewusstsein, Kurde zu sein, begann mit dem ersten Versuch, es auszulöschen: in der Schule. Der gesamte Unterricht fand auf türkisch statt, was ich kaum verstand. Wir durften dort niemals kurdisch sprechen.« Später als Gymnasiast in Ankara ist der lernbegierige Abdullah zwar Liebling der Lehrer, doch seine Klassenkameraden lassen den Dörfler spüren, dass er in der bürgerlichen Gesellschaft keine Chance haben wird. Es folgt eine vorübergehende Hinwendung zum Islam, bis ihm ein ein »ABC des Sozialismus« in die Hände fällt. »Die Religion verliert, Marx gewinnt«, so die Erkenntnis Öcalans, der sich Anfang der 70er Jahre an der antiimperialistischen Studentenbewegung in Ankara beteiligt. Ausgehend von der Erkenntnis »Kurdistan ist eine Kolonie« sammelt der junge Sozialist Gleichgesinnte um sich, mit denen er 1978 die PKK gründet. Nach der Ausbildung in palästinensischen Camps nimmt die kurdische Guerilla 1984 den bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee auf.

Die Entwicklungen seit Öcalans Gefangennahme schildert im Buch eine Figur namens Estella im Gespräch mit einer für eine Hausarbeit forschenden Studentin. Vorbild ist die in London lebende Estella Schmid, ein Urgestein der britischen Kurdistan-Solidaritätsbewegung. Etwas zu idealistisch wirkt ihre Darstellung der maßgeblich von Öcalans Theorie des »Demokratischen Konföderalismus« inspirierten Selbstverwaltungsregion Rojava in Nordsyrien. Zwar sind in der rätedemokratisch organisierten Gesellschaft die Befreiung der Frauen und die Gleichstellung ethnischer Gemeinschaften wie Kurden, Araber und Assyrer tatsächlich weitgehend Realität. Doch eine Überwindung des Kapitalismus erscheint in der armen, agrarisch geprägten Region im permanenten Kriegszustand als ­ferne Utopie. Aber wir haben es schließlich mit einen Comics und nicht mit einer wissenschaftlichen Untersuchung zu tun. An einigen Stellen wären Anmerkungen oder ein Glossar wünschenswert. Wer weiß schon, dass »Bakur« - kurdisch für »Norden« - den in der Türkei gelegenen Teil Kurdistans meint?

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Seit einem Vierteljahrhundert wird Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer in Isolationshaft gefangengehalten – bewacht von rund 1.000 Soldaten. Seit über drei Jahren fehlt jedes Lebenszeichen von ihm. Die Graphic Novel soll dazu beitragen, die Solidaritätskampagne für seine Befreiung zu stärken, so die Hoffnung der »Internationalen Initiative ›Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan‹« als Herausgeberin des Bandes. An diesem Donnerstag begeht »Apo«, wie er von seinen Anhängern liebevoll genannt wird, hinter Gittern seinen 75. Geburtstag.

Wir gratulieren. Rojbûna te pîroz be!

Sean Michael Wilson (Text)/Keko (Zeichnungen): Abdullah Öcalan. Eine illustrierte Biografie. Unrast-Verlag, Münster 2024, 160 Seiten, 18 Euro

»Abdullah Öcalan. Buchpremiere der Graphic Novel«. Autorenlesung. Donnerstag, 4.4., 19 Uhr. Ort: SO36, ­Oranienstraße 190, Berlin

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