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Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 8 / Ansichten

Verlogene Doppelmoral

Israels Angriff auf Helfer in Gaza
Von Wiebke Diehl
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Protest gegen die Tötung der australischen Helferin Zomi Frankcom in Melbourne am Mittwoch

So etwas passiere nun einmal in Kriegszeiten, versucht Premier Benjamin Netanjahu die Tötung von sieben Mitarbeitern der internationalen Hilfsorganisation World Central Kitchen im Gazastreifen herunterzuspielen. Und auch die Armee behält ihren gewohnten Jargon bei, man habe in den eindeutig gekennzeichneten Hilfsfahrzeugen Terroristen vermutet, trotz der heftigen internationalen Kritik der letzten Tage. Dabei war es nicht eine Rakete, die den Konvoi, der sich auf einer von Israel genehmigten Route befand, »unbeabsichtigt« traf. Vielmehr feuerte die Armee dreimal hintereinander auf die im Auftrag der Vereinten Nationen stehenden Helfer. Und zwar mit zeitlichem Abstand. Die Getroffenen hatten die Zuständigen zwischenzeitlich über den Angriff informiert und versuchten, Verletzte in das dritte, dann ebenfalls getroffene Fahrzeug zu bringen.

Auch die Behauptung der israelischen Zeitung Haaretz, mangelnde Disziplin und Eigenmächtigkeit seien ursächlich für den tödlichen Angriff, ist wenig plausibel. Nicht nur spielt eine solche – aus dem Verteidigungsministerium gestreute – Behauptung Ministerpräsident Netanjahu und der Armee in die Hände, die die Attacke als »schweren«, aber »tragischen« Fehler ad acta legen wollen. Angesichts von inzwischen mindestens 170 im Gazakrieg getöteten Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, deren Todesfälle wegen ihrer palästinensischen Herkunft nicht annähernd die gleiche Empörung im Westen auslösten, fragt man sich, wie viele solcher »tragischer Fehler« es geben kann. Die Drohnenpiloten, die in der Nacht zu Dienstag Helfer mit australischer, britischer, polnischer und US-amerikanisch-kanadischer Staatsbürgerschaft trafen, führten einen Befehl der Einsatzzentrale aus.

Seit sechs Monaten bedient sich Israel des Hungers als Kriegswaffe. Hochrangige Regierungsmitglieder kündigten die vollständige Abriegelung Gazas von Strom, Treibstoff, Lebensmitteln und Wasser im Oktober an, setzten sie durch und führten so eine riesige humanitäre Katastrophe herbei. Es ist schwer vorstellbar, dass Tel Aviv die Ankündigung zahlreicher Hilfsorganisationen, in Folge des tödlichen Angriffs ihre Arbeit im Gazastreifen einzustellen oder zumindest zu überdenken, bedauert. Genauso wenig weint man den Hilfsschiffen, die – mit so dringend benötigten Nahrungsmitteln an Bord – nach Zypern umkehrten, eine Träne nach.

Der Tod der ausländischen Helfer im Gazastreifen sei »ein unvermeidliches Resultat dessen, wie dieser Krieg aktuell geführt wird« brachte es UN-Sprecher Stéphane Dujarric auf den Punkt. Und die westlichen Krokodilstränen? Sie sind an Verlogenheit nicht zu überbieten. Immerhin hätten es die USA als größter und Deutschland als zweitgrößter Waffenlieferant Israels in jedem Moment dieses Krieges in der Hand gehabt, den Tod von fast 33.000 Menschen mittels eines Rüstungsembargos zu stoppen.

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  • Leserbrief von Rudi Eifert aus Langenhagen (4. April 2024 um 13:29 Uhr)
    Man kann es auf einen Nenner bringen: Israel kann sich alles herausnehmen, ohne dass es einen medialen Proteststurm im Westen gibt. Fast könnte man annehmen, dass das, was diesem Hilfskonvoi passierte, eigentlich System hat. Die scheinheilige Entschuldigung, es sei ein Fehler passiert, täuscht nicht darüber hinweg, dass das Regime in Tel Aviv es darauf angelegt hat, Helfern humanitärer Organisationen jede Lust am Einsatz zu nehmen, um so ihre Leningradisierung dieses ungeliebten verhassten Streifens namens Gaza voranzutreiben und die Zivilbevölkerung dem Hungertod auszuliefern. Dass das zypriotische Schiff mit Hilfsgütern wieder zurückgefahren ist, ist genau das, was sich Tel Aviv wünscht. Die heuchlerischen Lippenbekenntnisse eines US-Präsidenten, der das Vorgehen der IDF zwar kritisiert, aber nicht mit Sanktionen und massiven Maßnahmen gegen Israel vorgeht, zeigt eines auf: Bedauern und Entsetzen zeigen, was ja letztlich nichts kostet, den Schein wahren und das eigene Gewissen beruhigen. Was weitaus bedenklicher ist, ist das beschämende Schweigen deutscher Stellen zu diesem Mord an Zivilisten, die nur ihrer humanitären Aufgabe nachgegangen sind. Verwerflicher indes ist der Umstand, dass sich die deutsche Regierung in ihrer Unmoral nicht zu schade ist, auch weiterhin Waffen an Israel zu schicken, wohlwissend, dass diese im Gazastreifen eingesetzt werden. In dieser Gemengelage ist es fadenscheinig und verlogen, der Öffentlichkeit verkaufen zu wollen, die hektische Reisediplomatie von Frau Baerbock – seht Leute, ich tue doch alles, um zu verhindern, dass die IDF in Rafah einen beispiellosen Genozid unter der Zivilbevölkerung anrichtet – brächte etwas. Man fragt sich, ob unsere Politiker in Berlin, die sich in ihrer Staatsraison gegenüber Israel völlig vergaloppiert haben und sich in einem Hamsterrad bewegen, überhaupt noch eine ruhige Nacht haben können.
  • Leserbrief von Ronald Prang aus Berlin (3. April 2024 um 21:12 Uhr)
    Putin wurde vor dem Europäischen Gerichtshof wegen, viel weniger offensichtlichen Kriegsverbrechen seiner Soldaten in der Ukraine, angeklagt. Nun wird er mit internationalem Haftbefehl weltweit verfolgt. Netanjahu sagt einfach nur, »ein übereifriger Soldat hat überreagiert« und schon wird der Mord an zivilen Hilfskräften aus verschiedenen Staaten aktzeptiert? Der Staat Israel benutzt den Hunger palästinensischer Zivilisten als Kriegswaffe, ganz bewusst und zielgerichtet. Der Staat Israel tut es, nicht die Juden. Der Staat Israel führt seit Jahrzehnten einen Krieg gegen die Palästinenser, okkupiert einen Ort nachdem anderen durch Siedlungsbau auf fremden Territorium. Immer mehr auch Juden protestieren in Israel gegen den Kriegsverbrecher Netanjahu, aber wer klagt ihn vor dem Europäischen Gerichtshof an? Das ist doch eigentlich die Aufgabe jedes zivilisierten Staats, die UNO hat in vielen Fällen israelische Verfehlungen angeprangert. Kein Land der Welt traut es sich einen Mörder Mörder zu nennen, weil sofort mit dem Vorwurf des Antisemitismus geantwortet wird. Die Religion jedes Menschen ist seine Privatsphäre, kein Mensch hat das Recht einen anderen Menschen zu töten, nur weil er einer anderen Nation angehört, oder einen anderen Gott anbetet. Die Verbrechen der Deutschen an den jüdischen Menschen war eins der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, das macht das Morden zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland nicht ungeschehen, und dabei ist es egal, ob man es zu Nationalitätenstreitigkeiten stilisiert. Mord bleibt Mord, ganz gleich welchen Grund man »an den Haaren« heranzieht. Wer Putin vor Gericht stellen will, sollte Netanjahu anzeigen. Kriegsverbrechen müssen unabhängig von der Nation oder Religion verfolgt werden.

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