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Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 6 / Ausland
Italien

Zum Überleben zu wenig

Italien: Unmenschliches Gefängnissystem angeprangert. Gewerkschaften fordern Maßnahmen für Bildung und soziale Integration
Von Gerhard Feldbauer
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Italien hat eine der höchsten Überbelegungsquoten in Gefängnissen in Europa (Mailand, 4.3.2024)

In diesem Jahr haben sich bereits 29 Inhaftierte in Italien das Leben genommen. Aldo Di Giacomo, Generalsekretär der Gewerkschaft der Strafvollzugspolizei SPP, will diese Situation nicht mehr hinnehmen – vor allem, da es in den ersten drei Monaten auch drei Suizide unter SPP-Polizeibeamten gab. Am Dienstag erklärte Di Giacomo nun, in den Hungerstreik zu treten und durch die Gefängnisse seines Landes zu reisen, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Im Präsidentenpalast Quirinale will er dann im Anschluss »einen Appell an den Präsidenten der Republik richten«.

Das Thema bewegt auch den nationalen Gewerkschaftsbund. Am Mittwoch beriet die CGIL im Hauptquartier ihrer Konföderation in Rom die Initiative »Artikel 27. Rechte im Gefängnis«. In einem dazu vorgelegten Bericht wird angeführt, wie der Verfassungsartikel in jeder Hinsicht missachtet wird. Denn dort heißt es: »Die Strafe darf nicht in einer gegen die Menschlichkeit verstoßenden Behandlung bestehen und muss auf die Umerziehung des Verurteilten abzielen.« Demgegenüber prangert der auf der CGIL-Plattform Collettiva veröffentlichte Bericht die unmenschlichen Bedingungen in italienischen Haftanstalten an, die von Überbelegung, strukturellem Verfall, prekären sanitären Bedingungen, einem fast völligen Mangel an Aktivitäten sowie Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie einem Mangel an Ressourcen und Personal gekennzeichnet seien.

Die italienischen Gefängnisse sind durchschnittlich mit 119 Prozent der Quote überfüllt, wobei Spitzenwerte in der südlichen Region Apulien bei 153 Prozent, in den nördlichen Regionen wie der Lombardei bei 142 und in Venetien bei 134 Prozent erreicht werden. Das Durchschnittsalter der Häftlinge liegt bei 40 Jahren, über ein Drittel von ihnen wartet auf ein Urteil aus der ersten Instanz. Mit diesen Quoten gehört Italien zu den Ländern in Europa mit den höchsten Werten. Und es sind dieselben Rekordwerte und dieselben unhaltbaren und erniedrigenden Bedingungen, die den Europäischen Gerichtshof schon vor 15 Jahren veranlassten, Italien wegen Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen.

Aber nichts habe sich seitdem verändert, hält der Bericht fest, wobei noch nicht berücksichtigt sei, dass die Zahl der Gefangenen rasant gewachsen ist: auf 61.000 allein im Februar dieses Jahres, eine Steigerung gegenüber 56.000 im Februar 2023 und 54.000 ein Jahr zuvor. Die CGIL führt diesen Anstieg auf die »Sicherheitspolitik« der Meloni-Regierung zurück. So sei die Zahl der Strafdelikte mit der Justizreform erhöht worden, die etwa für Hausbesetzer mehrjährige Haftstrafen einführte. Maßnahmen zur Bekämpfung von Marginalisierung, Not und Armut wurden demgegenüber nicht ergriffen.

Unter Bezugnahme auf die Gefängnis-NGO Antigone heißt es in dem Bericht weiter, dass viele Haftanstalten heruntergekommene Gebäude sind, oft mit Zellen, die nicht geheizt sind oder kein heißes Wasser haben, ohne Duschen, mit Matratzen auf dem Boden. Teilweise gebe es Zellen mit Einzelräumen von weniger als drei Quadratmetern, Arbeitsbereiche, Turnhallen oder Sportplätze fehlten.

CGIL-Gewerkschaftssekretärin Daniela Barbaresi wies darauf hin, dass es unter diesen Zuständen keine umerziehende und soziale Funktion gebe und man »über die Funktion der Bestrafung, aber auch über ihre Alternativen nachdenken« müsse. »Um dieses Ziel zu erreichen, sind rasche Maßnahmen unter Achtung der Menschenwürde und der verfassungsmäßigen Werte erforderlich«, so Barbaresi. Unter den Häftlingen befänden sich Menschen mit psychischen Problemen, Drogenabhängige, irreguläre Einwanderer, Arme, die für Verbrechen von geringer Bedeutung bestraft werden. Aber nur 19.000 Häftlinge, also etwa ein Drittel, könnten arbeiten. Von daher müssten schulische Bildung und Ausbildung eine sehr wichtige Rolle spielen: Ein Fünftel der Inhaftierten hat demnach die Pflichtschule nicht abgeschlossen, und unter ihnen gibt es fast tausend Analphabeten. Der Gewerkschaftsbund fordert daher, Aktivitäten zur sozialen Wiedereingliederung zu fördern, angefangen bei der Bildung bis hin zur Gewährleistung des Grundrechts auf Gesundheit.

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