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Aus: Ausgabe vom 03.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Die Feen lieben das F-Wort

Gar nicht so primitiv: Das »Fack Ju Göhte«-Spin-off »Chantal im Märchenland« hat reichlich Charme
Von Ronald Kohl
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Bin ich schön? Chantal (Jella Haase)

Alle wollen mal ins Märchenland. Aber keiner will dort bleiben. Erst recht nicht Chantal Ackermann (Jella Haase). Für sie ist der Abstecher in das Reich der verfolgten Hexen, gemobbten Prinzessinnen und schwulen Prinzen ein reiner Businesstrip – und zwar der erste und ganz bestimmt auch der letzte ihrer Laufbahn. Denn Chantal ist eine stadtbekannte Influencerin. Bekannt wegen der mikroskopisch kleinen Anzahl ihrer Follower. Morgens sehen wir sie mit dem Smartphone vor dem Spiegel. Sie erklärt ihrer imaginären Fangemeinde die Vorteile von Sekundenkleber, wenn man sich kein Botox für einen sexy Schmollmund leisten kann. Das sieht nicht nur krass aus, es ist auch lustig, weil sie mit Haaren, Händen und Füßen dort, wo sie gerade steht, kleben bleibt. Eine schöne Metapher bezüglich ihrer aktuellen Lebenslage.

Im Schloss

Aber zugleich auch ihr erster Schritt in Richtung Ruhm, denn das Girl mit der Entenschnute, das am Waschbecken festklebt, kennen schlagartig alle. Und so wird es denn auch mit großem Hallo im Jugendklub begrüßt. Dort wurde soeben ein mannshoher, altertümlicher Spiegel für den Flohmarkt am nächsten Wochenende angeliefert. Mit Spiegeln hat es Chantal ja heute, wie bereits angedeutet, nicht so. Und schwups verschwinden sie und ihre Freundin Zeynep (Gizem Emre) dank irgendwelcher übernatürlicher Kräfte in dem Ding und düsen in flatternden, farbenprächtigen Gewändern in Richtung Märchenland, wo sie auf einem riesigen Bett in einem traumhaften Schloss landen. Die Fee, die dann auch gleich mit ihrem Zauberstab angerauscht kommt, wird von Chantal mit einem F-Wort begrüßt, das Wiglaf Droste einmal so umschrieben hat: »Es klingt so ähnlich wie die Kurzbezeichnung der Berliner Taxifahrer für die Potsdamer Straße.« Dennoch ist »Chantal im Märchenland« kein primitiver Film. Und wenn es mal vulgär wird, dann hat das auch seinen Sinn, da werden größere Gags vorbereitet. Das ist die wichtigste Zutat für das gelungene Script: Es ist zwar Geblödel, und das soll es auch sein, aber es ist immer bündig und strukturiert. Noch wichtiger als das Drehbuch ist freilich die Heldin.

Während Chantal in den insgesamt drei Teilen von »Fack Ju Göhte« der Liebling ihres schrägen Lehrers und auch der des Kinopublikums war, wurde sie allmählich zu alt für die Rolle der quicklebendigen Schülerin. Regisseur Bora Dagtekin, der seine Karriere als Drehbuchautor begann, schreibt die Rollen in seinen Filmen den ihm vertrauten Schauspielern gern auf den Leib. Das hat auch dieses Mal perfekt funktioniert. Chantal behält ihre abgefuckte Teeniesprache bei, hat aber mit den Feen und Prinzessinnen auf einmal Frauen um sich, die diese Ausdrucksweise lieben, weil sie von ihren männlichen Märchenkollegen nicht verstanden wird. Manchmal allerdings auch von keiner Frau. Über die Dreharbeiten berichtet Dagtekin: »Es gab schon Jugendworte, die kannten die Schauspielerinnen auch noch nicht. Da hatte ich wohl zu gut recherchiert.« Was sich mit Blick auf den Plot wohl kaum behaupten lässt.

Neben Figuren aus Grimms Märchen spielt auch Aladin eine große Rolle. Nur läuft er, zumindest während der ersten Kapitel, nicht mit einer Öllampe durch die Märchenwelt, sondern mit einer goldenen Bettpfanne. Und der Prinz, der Dornröschen, also Chantal, wachküssen will, bekommt eine geklebt, weil er sich weder vorgestellt noch angeklopft hat. Doch die Watschen steckt er unbekümmert weg: Er wälzt sich ohnehin viel lieber mit seinem Schildknappen im Stroh. Der feuerspeiende Drachen, ohne den auch Dagtekin nicht auskommt, steht zwar auch auf Männer, aber nur als Frühstück. Außer Menschenfleisch gibt es da noch eine Sache, auf die er neuerdings voll abfährt: Chantals Handy.

Schicke Halskette

Es kommen also alle Dinge in diesem Märchen vor, die uns in der Wirklichkeit den letzten Nerv rauben. Und dennoch besitzt der Film beachtlichen Charme, denn, wie der Regisseur es formuliert: »Wir spielen mit Märchen, aber wir zerstören sie nicht.« Wo er hingegen »dazwischenfunken« will, das sind die Monopolansprüche der Disney-Produzenten. Dagtekin stellt klar, »dass die Märchen uns noch ein bisschen mehr gehören als Hollywood.« Diese beinahe schon kulturpolitische Ambition erklärt, warum Chantal »Chanti« Ackermann auch mal Sprüche raushaut, bei denen selbst Aladins goldene Lampe einen roten Griff bekommt. Das F-Wort ziert übrigens auch ihre Halskette. Als sie die dem schmachtenden Aladin bei ihrer letzten Begegnung schenken möchte, fragt der: »Ist das dein richtiger Name?« – »Nein«, sagt sie. »Mein richtiger Name ist Chantal.« Das ist zwar noch lange nicht das Ende, aber mir gefällt dieser Schluss.

»Chantal im Märchenland«, Regie: Bora Dagtekin, BRD 2024, 123 Min., bereits angelaufen

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