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Aus: Ausgabe vom 30.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Musik

Der wunde Punkt

Kommunist im Klassikolymp. Zum Tod des Pianisten Maurizio Pollini
Von Florian Neuner
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Kraftvoll, kristallklar, unsentimental: Maurizio Pollini in den 70er Jahren

Zwar gibt es inzwischen eine Reihe von Pianisten, die sich – wie etwa Pierre-Laurent Aimard – für Zeitgenössisches auch außerhalb von Nischenprogrammen erfolgreich einsetzen. Unter den wenigen im absoluten Klassikolymp, die ihre Soloabende in Berlin nicht im Kammermusiksaal, sondern im großen Saal der Philharmonie geben, war Maurizio Pollini aber der einzige – nicht immer zur Freude des Publikums und der Musikindustrie. Ein noch größeres Sakrileg in den Festspielsphären des Wahren, Guten und Schönen ist freilich politisches Engagement. FAZ-Musikkritiker Jan Brachmann scheint dem Italiener seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) bis heute nicht verziehen zu haben. In einem Gespräch mit dem SWR entblödete er sich vor wenigen Tagen nicht, Pollinis politische Haltung als »Leisure-Time-Vergnügen« zu denunzieren und sprach von einem Kommunismus, der sich um das Proletariat so kümmere wie Sir John Eliot Gardiner um seine Rinder in Dorset. Maurizio Pollini muss also einen wunden Punkt getroffen haben.

Pollini wurde 1942 in Mailand in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Sein Vater war als Architekt Protagonist der modernistischen Strömung der Zwischenkriegszeit. Fausto Melotti, der Onkel des Pianisten, war als Bildhauer und Zeichner ein Vertreter der geometrischen Abstraktion. Schon als Teenager gab Maurizio Pollini Konzerte. Als er 1960 in Warschau den Chopin-Wettbewerb gewann, hätte er sofort in eine internationale Karriere starten können, entschied sich aber dafür, weiterzulernen und sein Repertoire zu erweitern, nahm Unterricht bei Arturo Benedetti Michelangeli. Zunächst machte Pollini als revolutionärer Chopin-Interpret Furore: Sein Spiel war kraftvoll, kristallklar und bar jeglicher Sentimentalität. Seine Einspielung der Etüden aus dem Jahr 1972 ist eine bis heute Maßstäbe setzende Kultplatte. Neben Chopin beschäftigte ihn auch Beethoven lebenslänglich. An der Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten laborierte Pollini beinahe 40 Jahre; in seinen letzten Lebensjahren hatte er sich der späten Sonaten noch einmal vorgenommen, mit denen er den Zyklus 1976 begonnen hatte.

Klarheit statt Tastendonner, analytische Durchdringung statt Effekthascherei – so könnte man, unbeholfen genug, Maurizio Pollinis wie in Marmor gemeißeltes Klavierspiel charakterisieren, das gleichwohl nichts von vergrübelter Zurückhaltung hatte, sondern von mitreißender Intensität war. Pollinis Repertoire, das konzedierte er selbst, war bei aller Vielseitigkeit nicht überbordend groß. Anders als etwa Swjatoslaw Richter war er nicht unermüdlich auf der Suche nach Erweiterungen seines Repertoires. So manches Virtousenschlachtross ließ er links liegen und wählte Stücke, die er wieder und wieder auf seinen Konzertreisen, die ihn – immer mit dem eigenen Instrument – in alle Welt führten, oft und öfter spielen mochte. Als einer der letzten wurde Pollini von der inzwischen völlig heruntergewirtschafteten Deutschen Grammophon exklusiv und angemessen betreut. Zu den dort veröffentlichten Meilensteinen zählt zweifellos die Gesamteinspielung des Klavierwerks von Arnold Schönberg im auch schon wieder ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Schönberg-Jahr 1974, zählen die Aufnahme der späten Franz-Schubert-Sonaten und der Préludes von Claude Debussy, zählen Robert Schumann, Anton Webern, Pierre Boulez und Luigi Nono.

Immer wieder kam Pollini auf die Klavierkonzerte von Beethoven und Brahms zurück, Mozart-Konzerte dirigierte er in Wien vom Klavier aus. Eine unwahrscheinliche, nichtsdestoweniger fruchtbare Partnerschaft verband den jungen Pollini mit dem späten Karl Böhm, mit dem er in Wien u. a. Brahms’ Klavierkonzert Nr. 1 op. 15 aufnahm. Später war dann sein Freund Claudio Abbado der wichtigste Partner am Dirigentenpult. Ein einziges Mal kam es zu einer Begegnung mit Dietrich Fischer-Dieskau, den Pollini 1978 in Salzburg bei Schuberts »Winterreise« begleitete. Zum Glück liegt diese Sternstunde inzwischen auf einer Orfeo-CD vor, denn wie der Konstruktivist Pollini und der bedingungslose Ausdrucksmusiker Fischer-Dieskau aufeinandertreffen, ist atemberaubend.

Zunächst nach eigener Aussage ein unpolitischer Mensch, änderte sich das schlagartig, als Pollini Ende der 60er Jahre Luigi Nono kennenlernte. Er trat der KPI bei und bildete mit Abbado und Nono bis zum Tod des Komponisten im Jahr 1990 ein durch Komplizenschaft verbundenes Dreigestirn progressiver Musikkultur, organisierte Konzerte für Arbeiter und Jugendliche. Ein Höhepunkt dieser Partnerschaft war zweifellos 1972 die Uraufführung von Nonos »Como una ola de fuerza y luz« (Wie eine Woge von Kraft und Licht), das dem Andenken an Luciano Cruz von der Bewegung der revolutionären Linken in Chile gewidmet ist, mit Pollini am Klavier und Abbado am Pult. Pollini wurde nicht müde zu betonen, dass das Musikleben ohne zeitgenössisches Repertoire keine Zukunft hat. Die Vernachlässigung durch Pianisten und Veranstalter sei ein gigantischer Fehler und auch er hätte noch mehr machen können, wie er einräumte. Am 23. März ist Maurizio Pollini in Mailand 82jährig verstorben.

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