4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 02.04.2024, Seite 6 / Ausland
Antikolonialismus

Frankreich bekennt Schuld

Massaker an Algeriern vom 17. Oktober 1961 in Paris offiziell als Verbrechen eingestuft. Ultrarechte nennt es erfunden
Von Sabine Kebir
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Erinnerung an die Ermordeten des 17. Oktober: Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen (Paris, 17.10.2018)

Auf Antrag von Sabrina Sebaihi, einer Abgeordneten der Grünen, und Julie Delpech, einer Parlamentarierin der Partei Renaissance, hat die französische Nationalversammlung am 28. März eine Resolution verabschiedet, die ein Massaker der Polizei zum Verbrechen erklärt, das vor mehr als 62 Jahren, am 17. Oktober 1961, mitten in Paris vor den Augen der Öffentlichkeit stattfand.

Für die Unabhängigkeit

Die französische Sektion des algerischen Front de Libération National (FLN) hatte die algerischen Arbeitsmigranten aufgerufen, an jenem Tag der Forderung nach der Unabhängigkeit ihrer Heimat mit einer Massendemonstration Nachdruck zu verleihen. Präsident Charles de Gaulle hatte zwar schon seit 1959 vom Selbstbestimmungsrecht Algeriens gesprochen, das am 8. Januar 1961 ein in der Kolonie selbst und in Frankreich durchgeführtes Referendum mit einer Mehrheit von fast fünfundsiebzig Prozent bestätigte. Und längst waren Geheimverhandlungen mit der Provisorischen Regierung Algeriens im Gange, die aus ehemals inhaftierten Widerstandskämpfern bestand, darunter der spätere erste Präsident Ahmed Ben Bella. Aber nicht nur die politische Rechte, vor allem Teile der Armee widersetzten sich dem Ergebnis des Referendums und führten den seit 1954 andauernden Unabhängigkeitskrieg in seine blutigste Phase. Sowohl in Algerien als auch in Frankreich vollführte die von vier Putschgenerälen angeführte Organisation Armée Secrète (OAS) zahlreiche Anschläge nicht allein gegen FLN-Kader aus. Ins Visier genommen wurden auch intellektuelle Befürworter der algerischen Unabhängigkeit wie Jean-Paul Sartre, gegen den zwei Mordanschläge misslangen. Sartre sah die von der OAS bedrohte Ordnung Frankreichs damals in der Gefahr, in den Faschismus abzugleiten.

Vor dem Hintergrund, dass der Algerienkrieg auch im Mutterland eine instabile Situation erzeugt hatte, ist auch zu erklären, dass die Demonstration trotz der bereits weit gediehenen Unabhängigkeitsverhandlungen zu einer in der Fünften Republik beispiellosen Blutorgie führte. Obgleich der FLN ausdrücklich zu einer friedlichen Manifestation ohne Waffen aufgerufen hatte, ordnete der Pariser Polizeipräsident Maurice Papon an, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen, die zu Tausenden auf den großen Boulevards defilierten. Die Polizisten prügelten nicht nur, sondern schossen auch in die Menge. Bis in die Metrostationen hinein wurden Fliehende verfolgt, Verhaftete wurden auf den Polizeistationen gefoltert. Zahlreiche Algerier wurden – tot oder noch lebendig – in die Seine geworfen. Noch Tage später wurden Leichen an die Flussufer in der Hauptstadt und ihren Vororten gespült.

Trotz dieser brutalen Repression fand einige Tage später eine Demonstration algerischer Frauen mit ihren Kindern statt, die sowohl gegen die Gewaltaktion protestierten als auch für die Selbstbestimmung der Kolonie. Im historischen Rückblick erscheint das Massaker auch deshalb monströs, weil es die Verhandlungen beschleunigte, die am 19. März 1962 zum Waffenstillstand und am 3. Juli zur Unabhängigkeit führten.

Opferzahlen ungeklärt

Die genaue Zahl der Toten vom 17. Oktober 1961 wurde nie festgestellt. Nach Schätzungen waren es bis zu 300. Papon wurde dafür nie zur Verantwortung gezogen. Erst 1981 hatte die Wochenzeitung Le Canard enchaîné öffentlich gemacht, dass der damals zum Finanzminister Aufgestiegene unter der deutschen Besatzung zwischen 1942 und 1944 Präfekt des Département Gironde gewesen war und an der Verschleppung jüdischer Bürger in das Sammellager Drancy mitgewirkt hatte, von wo sie nach Auschwitz deportiert wurden. In dem über 17 Jahre währenden Prozess kam weder das Massaker von 1961 zur Sprache noch eine weitere von Papon angeordnete Repression gegen eine von Kommunisten und Gewerkschaftern organisierte Demonstration, die sich am 8. Februar 1962 gegen die OAS wandte. Die vom offiziellen Frankreich selten thematisierten, bis in den Faschismus reichenden Kontinuitäten rechter Politik finden bis heute ihre Fortsetzung. Während der Diskussion um die Resolution behaupteten Abgeordnete des Rassemblement National, die Erinnerung an den 17. Oktober 1961 beruhe auf »Fake News«.

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