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Aus: Ausgabe vom 30.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Vielleicht auch schlafen

Calderóns »Das Leben ein Traum« gleitet gebremst durchs Hamburger Thalia-Theater
Von Eileen Heerdegen
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»So lernt ich gleich, so elend schmachtend, den Begriff der Politik«, Calderón, »Das Leben ist ein Traum«

Die Frau in der U-Bahn mit der Jutetaschenzumutung, »Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum«, wirkt nicht so, als würde sie irgend etwas leben, das nicht anstrengend und zermürbend ist. Passt aber, die meisten Träume sind schließlich verwirrend, anstrengend, angstmachend. Zudem vollkommen unbeeinflussbar, wie die ganze fragile Existenz: »Sterben – schlafen – schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegts: Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen …« (»Hamlet«).

Seit jeher auch die Frage nach Täuschung und Realität. – »Vielleicht ist das, was wir Leben nennen, ein Traum und das, was wir Traum nennen, das Leben.« (Platon, 428–347 vor unserer Zeitrechnung) oder das berühmte Schmetterlingsgleichnis des Zhuangzi (365–290 v. u. Z.): »Bin ich ein Mensch, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder bin ich ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch?«

Sigismund, der tragische Held bei Calderón de la Barca ist kein Philosoph. »Nichts ist, wie es scheint«, für ihn brutale Realität als Opfer des abergläubischen Vaters, König Basilio. Um die weisgesagte Tyrannenherrschaft zu verhindern, wuchs der Prinz einsam in einem Turm heran, ohne seine Herkunft zu ahnen. Aber vielleicht war die Prophezeiung falsch? Also soll Sigismund eines Tages als König erwachen und glauben, den finsteren Turm nur geträumt zu haben.

Das 1635 uraufgeführte Werk ist ein typisches Stück der spanischen Comedia des barocken »Goldenen Zeitalters«, bietet aber aktuelle Denkansätze. 1990 inszenierte David Mouchtar-Samorai das Stück im Hamburger Schauspielhaus, mit orientalischen Kostümen und dem wunderbaren Roland Renner als Sigismund, als kraftvolles, zeitloses Märchen. Der niederländische Regisseur Johan Simons entschied sich nun im Thalia-Theater (Premiere 22. März 2024) für Ausstattungsmodernität. Auch er hat mit Jens Harzer einen wunderbaren Sigismund und überhaupt ein hervorragendes, spielfreudiges Ensemble: Christiane von Poelnitz als König Basilio, Marina Galic, Felix Knopp, Anna Blomeier, Falk Rockstroh und Jirka Zett.

Eine karge Bühne, mehr schwarz als schwarz-weiß, ein riesiger Spiegel, Lichteffekte und langsame, leere Umdrehungen zu »Sketches of Spain« von Miles Davis, das immer wieder als musikalische Klammer des Abends dient, verbreiten zu Beginn eine Traurigkeit, die leider später hinter Tischerücken, zappelnden Tänze(r)n und anderen Oberflächlichkeiten verschwindet, aber gut zum Schicksal des Prinzen passen würde. »Wer bin ich? Im Dreck geboren, sterbe ich mein Leben, ein Skelett mit Seele, aufgewacht im Leichenbett.«

Die opulente Dramödie um Macht und Missbrauch ist eine zeitlose Warnung vor den gefährlichen Folgen der Missachtung von Menschen(rechten). Es kommt, wie es kommen muss: Kaum König, wird der verwirrte, zerstörte Sigismund tatsächlich zum Wüterich, worauf Plan B ihn wieder in sein Trauma schickt.

Leider bleibt das Spiel über recht lähmende, pausenfreie 160 Minuten seltsam emotionslos, Tragik wie Späße gleiten dahin. Große Schauspielkunst, aber wenig Berührendes. Vielleicht habe ich das Beste verpasst, ich bin tatsächlich eingeschlafen. Highlight im Wachzustand: Alle balgen sich um Eistüten, der Prinz beißt übermütig mal hier, mal dort hinein – »kalt«– wie ein Baby, wie ein Tier, mit größtem Erstaunen, eine grandios naiv gespielte Reaktion von Jens Harzer.

Auch die Nebenhandlung verplätschert sich. Rosaura (Marina Galic), als Mann verkleidet, um ihren Verführer zu finden und der Ehre wegen zur Ehe zu zwingen – trotz des zweifelhaften Ehrbegriffes ist hier eine erstaunlich starke Frau, die einen Doppelwumms von der Regie verdient hätte.

Apropos Regie. Es dröhnt aus dem Off. Am Akzent zu erkennen, schwer zu verstehen, Johan Simons himself. Der Kollege der Nachtkritik hat die besseren Ohren, ihm verdanke ich die Erkenntnis, dass dort nicht in allerpeinlichster Weise Gott spricht, sondern (auch peinlich) des Volkes Stimme, das, warum auch immer, den Sigi doch zum König haben möchte. Anständig benehmen soll er sich halt.

Und dies wäre dann die nächste Botschaft aus dem barocken Jenseits, dass es im Leben (vorsichtshalber auch im Traum) einen großen Unterschied macht, ob ein Mensch gut oder schlecht ist. Erstaunlich, dass hier ausgerechnet die Gegenreformation in Person des Jesuiten Calderón de la Barca konträr zu Luther (alles scheißegal, Gott urteilt eh, wie er will) humanitäre Grundsätze einfordert. Er hätte sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass knapp 400 Jahre später »Gutmensch« ein Schimpfwort ist.

Nächste Vorstellungen: 6., 26., 28. April

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