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Aus: Ausgabe vom 30.03.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Energiepolitik

Frankreichs nukleares Milliardenloch

Neubau von Europäischem Druckwasserreaktor in Flamanville verzögert – und verteuert sich
Von Wolfgang Pomrehn
FRANCE-NUCLEARPOWER.JPG
Baustelle des AKW Flamanville (14.6.2022)

Die Fertigstellung des französischen Atomkraftwerks (AKW) Flamanville verzögert sich abermals. Seit 2007 wird an ihm gebaut, und die Fertigstellung wurde bereits mehrmals hinausgeschoben. Ursprünglich war geplant, das AKW 2012 in Betrieb zu nehmen. Die Baukosten waren 2004 mit drei Milliarden Euro angegeben worden, beliefen sich aber bis Ende 2002 bereits auf 13,2 Milliarden Euro. Die französische Atomaufsichtsbehörde kündigte zu Beginn der Woche an, eine abschließende öffentliche Anhörung zu initiieren. Bauherr und künftiger Betreiber EDF gab nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters außerdem an, dass er 43 Betrugsfällen nachgehen wolle, die im Zusammenhang mit der Ausrüstung des Reaktors 2023 auffielen. Dabei handele es sich unter anderem um Unregelmäßigkeiten bei Zulieferern. Inwiefern diese für Sicherheitsfragen der Anlage von Belang sind, wurde nicht erwähnt.

Das AKW Flamanville ist das einzige derzeit in Frankreich im Bau befindliche Atomkraftwerk. Bei ihm handelt es sich um einen sogenannten Europäischen Druckwasserreaktor (EPR, European Pressurized Reactor), der in den 1990ern in Westeuropa noch als die große Zukunft der Nuklearindustrie angepriesen wurde. Knapp drei Jahrzehnte später wurden erst zwei Anlagen fertiggestellt: die AKW Taishan in China und Olkiluoto in Finnland. Letzteres ging 2021 mit 13 Jahren Verspätung ans Netz, zunächst noch im Testbetrieb. Erst 2023 wurde der Regelbetrieb aufgenommen. Die Kosten hatten sich bis dahin nahezu vervierfacht. Allerdings waren die finnischen Auftraggeber schlau und hatten seinerzeit mit den ausführenden Unternehmen Areva und Siemens einen Festpreis ausgemacht. Diese stritten sich daher anschließend ausgiebig, wie die Verluste aufzuteilen wären. Siemens ist zwischenzeitlich aus dem AKW-Bau ausgestiegen und Areva – heute als Framatome mehrheitlich im Besitz des staatlichen Stromkonzerns EDF – musste mit 4,5 Milliarden Euro aus dem Staatssäckel saniert werden.

Zwei weitere EPR sind derzeit im Südwesten Englands in Bau. Ein Konsortium aus China Nuclear Power Group und EDF hat dort bis vor kurzen am AKW Hinkleypoint C-1 und C-2 gebaut. Die britische Regierung hatte ihnen dafür für die ersten 35 Jahre umgerechnet rund elf Cent pro erzeugter Kilowattstunde angeboten, ein Garantiepreis, der zudem noch an die Inflation angepasst werden soll. Zum Vergleich: Zukünftige Betreiber von Windenergieanlagen in Deutschland, die in der letzten Ausschreibungsrunde Anfang des Jahres einen Zuschlag bekamen, werden durchschnittlich 7,34 Cent pro Kilowattstunde bekommen und das nur 20 Jahre lang und ohne Inflationsausgleich. Verglichen damit erscheinen die Konditionen für Atomstrom in Großbritannien traumhaft. Allerdings sind die Baukosten zwischenzeitlich auch dort derart explodiert, dass der chinesische Partner im vergangenen Dezember ausstieg. 2017 war noch von gut 20 Milliarden Euro die Rede gewesen, inzwischen werden die Baukosten hingegen auf 37,9 Milliarden Euro geschätzt, wie die Nachrichtenagentur Bloomberg seinerzeit berichtete.

Von billiger Atomkraft kann also nicht die Rede sein. Außerdem sieht es angesichts der enormen Probleme auf den wenigen AKW-Baustellen in Europa und Nordamerika nicht danach aus, dass die alten AKW rechtzeitig durch neue ersetzt werden könnten, wie es unlängst auf einem sogenannten Atomgipfel in Brüssel diverse Regierungen versprachen. Laut Statistik der Internationalen Atomenergieagentur sind 165 der 415 weltweit noch im Betrieb befindlichen Reaktoren 40 Jahre oder älter. 38 laufen sogar schon 50 Jahre oder länger. Ausgelegt sind die Reaktoren in der Regel für 40 Jahre Betriebszeit. Eines ihrer Alterungsprobleme ist der Stahl der Reaktordruckbehälter, in denen sich das hoch radioaktive Material befindet. Dieser versprödet mit der Zeit durch den Neutronenbeschuss der Kettenreaktion. Er wird also anfälliger für Risse und Brüche. Man muss sich also angesichts all der Methusalemreaktoren fragen, wann es denn wohl zur nächsten großen Reaktorkatastrophe kommt.

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