Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 28.03.2024, Seite 16 / Sport
Fußballrealität

»Gefährliche Staatsfeinde«

Mainz: Durchsuchungswelle bei aktiver Fanszene. Strafverteidigung kritisiert unverhältnismäßigen Einsatz
Von Oliver Rast
imago1041819471h.jpg
Rebellische Kurve mit klarer Botschaft zu unangemeldeten Hausbesuchen der Staatsmacht (Mainz, 2.3.2024)

Ein Anwohner hält das Schauspiel fest, die Linse seines I-Phones lugt zwischen blattlosen Ästen von Platanen am Straßenrand. Zu sehen ist folgendes: Eine Personengruppe, mehrheitlich in dunkelbunten Outdoorjacken und Bluejeans, drängt von links nach rechts über die Straßenecke an Baustellenschildern entlang; eine weitere, mit dem gleichen Dresscode, zahlenmäßig aber kleiner, weicht zurück und überquert dabei – ironischerweise – teilweise den Zebrastreifen. Währenddessen fliegen Fäuste, die wenigsten treffen; eher eine Art Schattenboxen auf öffentlichem Terrain. Dazu Gebrüll, Geschrei, alles unverständlich. Ende der 30sekündigen Sequenz auf dem Instagram-­Account »Fußball ist Tradition«.

Es ist Sonnabend, 17. Februar, kurz nach 11.30 Uhr. Der Wetterbericht sagt: diesig, bewölkt, feucht-kühl, fünf, sechs Grad Celsius. Mittenmang in der Mainzer Neustadt, nordwestlich der Altstadt, jenseits der breiten Kaiserstraße. Die beiden Meuten aus dem Videoschnipsel, zirka 30 versus 50, trafen dort Stunden vor dem Erstligakick zwischen dem 1. FSV Mainz 05 und dem FC Augsburg aufeinander.

Wissenswert: Aktive Fans der Mainzer und Augsburger mögen sich nicht. Weil: Bannerklau. Ende Oktober 2007 hatten Angehörige der FCA-Ultra­gruppe »Rude Boys« die Zaunfahne an 05er verloren – nach einem Match in Liga zwei im Bruchwegstadion. Der Kodex verlangt es: Gruppenauflösung, die »Rude Boys« waren Geschichte.

Auf das jüngste Kräftemessen folgten hingegen: Razzien. Am Dienstag voriger Woche, auf Antrag der Staatsanwaltschaft Mainz, durch einen Ermittlungsrichter am Amtsgericht erlassen. Insgesamt 45 Durchsuchungsbeschlüsse mit Schwerpunkt in Rheinland-Pfalz und Hessen, vereinzelt auch in Bayern und NRW, vollstreckten rund 300 Einsatzkräfte. Der Anlass war nicht nur der kurze Clinch in der Neustadt, ferner einer vor den Weihnachtsfeiertagen. Damals gerieten Anhänger der Mainzer mit Frankfurtern der Eintracht im Stadtgebiet aneinander. Der Vorwurf gegen Dutzende ermittelte Beschuldigte, vor allem FSV-Fans: schwerer Landfriedensbruch.

Die Durchsuchungswelle sei Ausdruck eines Polizeistaates, der sich in einem »Antiterrorkampf light« gegen Anhänger in den Kurven wähnt, erklärte die Mainzer Fanhilfe am vergangenen Sonnabend in einem Statement. Beschuldigte würden als »gefährliche Staatsfeinde« drangsaliert, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie es das rechtsstaatliche Übermaßverbot verlangt, ignoriert. Das sieht Niko Brill ähnlich. Klar, es gebe zwei Anlässe für polizeiliche Ermittlungen, aber die Reaktion seitens der leitenden Staatsanwältin sei völlig überzogen, sagte am Mittwoch im jW-Gespräch der Rechtsanwalt aus Mainz, dessen Kanzlei einige der Betroffenen vertritt. Brill stört auch, dass die Behörden auf Vorladungen verzichteten, statt dessen Beschuldigte mittels Hausdurchsuchungen und erkennungsdienstlicher Behandlung auf der Wache offenbar extra einschüchtern wollten. Die Maßnahmen dienten »der Ausforschung der Mainzer aktiven Fanszene«.

Und eh, starker Tobak, »schwerer Landfriedensbruch«. Für eine vergleichsweise harmlose »interne Prügelei« jedenfalls. Die Staatsanwältin war für jW am Mittwoch zwecks Replik nicht zu erreichen. Nach Informationen dieser Zeitung soll zudem das Mainzer Polizeipräsidium Druck auf den Verein ausgeübt haben, Stadionverbote gegen einzelne Ultras zu verhängen. Bislang hat sich Mainz 05 eher durch eine »moderate Praxis« ausgezeichnet. Fanbeauftragte wollten sich am Mittwoch hierzu gegenüber jW nicht äußern, ebenso wenig die Pressesprecherin des Vereins.

Davon unabhängig: Für die Fan­helfer aus Mainz bleiben die Razzien »ein koordinierter Angriff auf organisierte Fanstrukturen«.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (29. März 2024 um 15:59 Uhr)
    Ich frage mich, wie wohl die Berichterstattung aussähe, wenn es um »erlebnisorientierte aktive Fans« in der Ukraine ginge, aus der sich paramilitärische Einheiten wie z. B. »Asow« rekrutieren, siehe auch den Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa. »Bannerklau« ist auch nur ein anderer Ausdruck für »Capture the Flag«, wie man es aus einschlägigen Ballerspielen kennt. Sowas ist übrigens auch beliebt bei Burschenschaften und anderen Verbindungen, die dann allerdings wenigstens nach klaren Regeln eine Fechtpartie im privaten (!) Kreis ansetzen. Was unterscheidet denn »Ultras« von Hooligans? Akademische Spitzfindigkeiten zählen nicht. Was hat das überhaupt mit dem Sport zu tun? Es fällt eher auf, dass solche Leute zwei linke Füße haben, was dann offenbar mit einer Überdosis Aggressivität kompensiert werden muss. Wie viele von denen wären wohl bereit am »Tag X«, die verteilten braunen Hemden anzuziehen? Wie viele haben solche gar schon im Schrank? Anderswo wird doch immer von »toxischer Männlichkeit« fabuliert, aber wenn sie einem förmlich ins Gesicht springt, handelt es sich nur um arme von »Polizeistaatrepressalien« gegängelte »Fans«. Nein, das hat mit Fan sein nichts zu tun. Man vermiest vielmehr den einfach nur sportbegeisterten den Spaß. Ich boykottiere beispielsweise Fußball allein wegen solcher Auswüchse. Wenn in meiner Stadt ein Spiel ansteht, meidet man als Außenstehender am besten die Stadionumgebung, um nicht versehentlich zwischen die Fronten von »aktiven« und »erlebnisorientierten« »Fans« und/oder Polizei zu geraten. Und jW will mir nun weis machen, dass Landfriedensbruch zu hoch gegriffen sei?! 80 (!) Hirnies die sich in aller Öffentlichkeit, mitten in der Stadt (!), die Köppe einschlagen?! Von wegen »interne Prügelei«! Und wofür? Für einen Stofffetzen! Und da schließt der Kreis: ersetze den Fetzen gegen die Landesfahne und Fäuste durch Faustfeuer- und größere Waffen. jW sollte von undifferenzierter Fundamentalopposition Abstand nehmen.

Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:

Mehr aus: Sport