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Aus: Ausgabe vom 28.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Berliner Eigentore

Schlechte Wirtschaftsprognosen
Von Jörg Kronauer
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Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute werden in der Bundespressekonferenz präsentiert (Berlin, 26.3.2024)

Bei den Wirtschaftsprognosen für Deutschland gibt es zur Zeit nur eine Richtung: nach unten. Das war schon im vergangenen Jahr so, als die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten für 2023 der Bundesrepublik ein Wachstum von 0,3 Prozent vorhersagten; letzten Endes ging die deutsche Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent zurück. Am Mittwoch haben die Institute ihre Prognose vom Herbst – ein Plus von 1,3 Prozent – korrigiert; sie rechnen jetzt mit einem minimalen Wachstum von 0,1 Prozent. Ob es dazu kommt oder ob auch diese Vorhersage von der Realität unterboten wird – wer weiß.

Zumal die Wirtschaftsinstitute bei ihren Prognosen einen bedeutenden Faktor nicht wirklich einrechnen können: Die Eigentore, die die außenpolitischen Stürmer des FC Bundesregierung schießen. Ein solches ist es gewesen, Russland den Ruin anzukündigen und großspurig den Ausstieg aus dem Bezug russischen Erdgases anzustreben: Dies hat bekanntlich den Gaspreis dramatisch in die Höhe getrieben, in Moskau die Staatskassen klingeln lassen, zugleich jedoch den energieintensiven Branchen der deutschen Industrie ein Standbein weggetreten – das kostengünstige russische Pipelinegas. Das wirkt bis heute und vermutlich auch auf Dauer nach. Nun könnte man zwar aus Fehlern lernen; das aber ist nicht unbedingt die Sache der deutschen bzw. der europäischen Bourgeoisie, und so werden denn inzwischen erste Vorstöße unternommen, jetzt auch noch russisches Flüssiggas abzustoßen. Man kann sich ausmalen, wie sich das auf die Leistung der deutschen Industrie auswirken könnte.

Eigentore bereiten Berlin und die EU auch an ihrer zweiten Großkampfstelle vor – im Konflikt mit China. Beijing ist bemüht, die Wirtschaftsbeziehungen trotz des Machtkampfs mit dem Westen zu stabilisieren. Am Mittwoch empfing Präsident Xi Jinping zu diesem Zweck sogar eine hochkarätige Managerdelegation aus den USA. Stabilität liegt im Interesse der Volksrepublik: Bleiben heftige politische Erschütterungen aus, dann kann sie das gewaltige Gewicht ihres 1,4 Milliarden Menschen umfassenden Markts voll ausspielen; es hat ihr schon zu ihrem bisherigen Aufstieg verholfen. Weil Chinas Aufstieg jedoch mit dem Verlust auch deutscher bzw. europäischer Marktanteile einhergeht, bereiten Berlin und die EU nun auch Maßnahmen gegen chinesische Unternehmen vor – Strafzölle auf die Einfuhr von Autos, womöglich auch von Solarzellen.

Und dann? Sollten die Maßnahmen nicht verpuffen, wird Beijing wohl Gegenmaßnahmen ergreifen. Diese aber können die deutsche Industrie durchaus empfindlich treffen; der Kampf gegen ein ökonomisches und politisches Schwergewicht wie China ist riskant. Die allfälligen Blessuren dürften sich in der nächsten Korrektur der Wirtschaftsprognosen niederschlagen, vermutlich, wie gehabt, in einer Korrektur nach unten. Auch der Abstieg wird gemacht.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (28. März 2024 um 11:14 Uhr)
    Angesichts eines globalen Kapitalismus, der im Allgemeinen in der Krise steckt, und einer Vielzahl von Herausforderungen durch kriegerische und asymmetrische Konflikte rund um den Westen herum, ist die besorgniserregende Nachricht der volkswirtschaftlichen Frühjahrsprognose keine Überraschung. Es wird jedoch deutlich, dass Deutschland nicht einfach nur in einem vorübergehenden weltwirtschaftlichen Abschwung steckt, sondern unter tiefliegenden strukturellen Problemen leidet, die kurzfristig nicht zu lösen sind. Die Arbeitsproduktivität scheint ohne günstige Energie zu niedrig zu sein, und das Wachstumspotenzial bleibt schwach. Ohne eine Steigerung der Produktivität werden Investitionen unrentabel, der Wohlstand wird kaum zu halten sein, und soziale Verteilungskämpfe werden zunehmend eskalieren. Es ist wichtig, die Nachteile ehrlich anzuerkennen, aber gleichzeitig sollten wir uns hüten, in eine übermäßig pessimistische Standortkritik zu verfallen. Die deutsche Wirtschaft ist derzeit noch robust genug, um weiterhin eine führende Rolle in Europa zu spielen. Dennoch darf die deutsche Politik die tieferliegenden Probleme nicht ignorieren, nur weil die Konjunktur sich verbessert und Wahlen anstehen. Ohne eine grundlegende Umkehr wird die Wirtschaft jedoch nicht zu ihrer früheren Stärke zurückfinden können.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (28. März 2024 um 13:41 Uhr)
      Sehr gut erkannt, die Arbeitsproduktivität ist in der Tat das größte Problem der dt. Ökonomie. Es scheint nur niemandem so richtig aufzufallen oder zu stören …
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin (29. März 2024 um 17:03 Uhr)
        Das ist, weil die Wirtschaftsverbände das sagen und braucht sicherlich nur ordentliche Rationalisierungen? Oder welche Belege möchten Sie anführen? (…)

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