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Aus: Ausgabe vom 23.03.2024, Seite 12 / Thema
Jugoslawien

»Wir führen keinen Krieg«

Vor 25 Jahren begann die NATO mit der Bombardierung Jugoslawiens – ohne UN-Mandat
Von Rüdiger Göbel
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»Ich weiß auch, dass Empörung kein Mittel der Politik ist; aber ein Antrieb kann sie schon sein.« Rudolf Scharping erklärt am 15. April 1999 im Bundestag anhand von Bildern die »Menschenrechtsintervention« der NATO

Vor 25 Jahren, am 24. März 1999, sind wir in einem anderen Land aufgewacht. Die NATO beginnt an diesem Tag ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Deutsche Soldaten sind beim Überfall mit dabei, in Marsch gesetzt von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), Außenminister Joseph »Joschka« Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD). 78 Tage lang werden Städte, Infrastruktur, Fabriken bombardiert.

Doch der Krieg ist kein Krieg, sondern eine »humanitäre Intervention«. Eine Art militärische Sonderoperation. Alles, bloß nicht das K-Wort. Die NATO geriert sich als eine Mischung aus Antifa und Amnesty International mit Marschflugkörpern und raketenstarrenden Kampfjets. Der Militärpakt hat sich in Stellung gebracht, die Menschenrechte zu verteidigen und einen »Völkermord« zu verhindern, so die offizielle Erzählung. Es gelte, die weitere Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo zu verhindern. In der südserbischen Provinz treibt eine Untergrundarmee namens UÇK ihr Unwesen, verübt Anschläge auf staatliche Sicherheitskräfte und terrorisiert Nichtalbaner. Serbische Paramilitärs und jugoslawische Armee reagieren hart. Allein sie stehen hierzulande am Pranger. Serbien wird zum Paria der Politik. Wieder einmal.

Angeführt von den USA unter dem damaligen Präsidenten William »Bill« Clinton arbeiten die NATO-Staaten systematisch auf eine Militärintervention hin. Verhandlungen, die die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Kosovo beilegen und den angedrohten Krieg abwenden sollen, werden seitens des Westens mit unannehmbaren Forderungen versehen, so dass sie scheitern müssen und der Countdown zum Bombardement anlaufen kann.

Besatzungspläne

Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević, seinerzeit die Inkarnation des Bösen, wahlweise »Hitler« oder »Schlächter« vom Balkan, »größenwahnsinnig«, »ultranationalistisch«, »faschistisch« und vieles mehr, stimmt an jenem 24. März in einer Fernsehansprache die Bevölkerung des Landes auf das Unabwendbare ein. Er bekräftigt sein Nein zur Stationierung ausländischer Truppen auf jugoslawischem Boden, wie sie zuletzt bei den Vermittlungsgesprächen im französischen Rambouillet eingefordert worden war. Völlige Bewegungsfreiheit für NATO-Soldaten im ganzen Land, völlige Immunität für diese und kostenlose Nutzung der Infrastruktur – die in einem Anhang versteckten Zumutungen wären einer Besetzung Serbiens bzw. Jugoslawiens gleichgekommen. Ein Diktatplan.

Henry Kissinger, US-amerikanischer Strippenzieher und Außenpolitiker, der bis zu seinem Tod im vergangenen November im Alter von 100 Jahren erfolgreich einer Verurteilung als Kriegsverbrecher entgangen und jeglicher Sympathie für Serbien unverdächtig ist, hat dazu vor einem Vierteljahrhundert geäußert: »Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. (…) Die Serben haben sich vielleicht in der Bekämpfung des UÇK-Terrors barbarisch verhalten. Jedoch wurden 80 Prozent der Brüche des Waffenstillstandes, zwischen Oktober und Februar, von der UÇK begangen. Es gab keinen Krieg der ethnischen Säuberung in dieser Zeit.«

Die Ablehnung der NATO-Besatzungstruppen sei die richtige Entscheidung, erklärt Präsident Milošević also den Bürgern seines Landes. Die Armee wird zur Landesverteidigung aufgerufen, die Bevölkerung dazu, Ruhe zu bewahren. Auf den TV-Kanälen werden die unterschiedlichen Signal­folgen der Alarmsirenen erklärt und Verhaltensregeln bei Luftangriffen gegeben: bei einem Angriff die Fenster öffnen, damit die Scheiben nicht bersten, Schutz im Keller oder in einem Bunker suchen – so denn einer vorhanden ist.

Weite Teile der Bevölkerung werden den staatlichen Sicherheitsappellen nicht Folge leisten. Die Bürger postieren sich als »lebende Schutzschilde« auf Brücken, vor Gebäuden und in Fabriken, in der Hoffnung, eine Zerstörung durch die NATO zu verhindern, die sich ja auf die Fahnen schreibt, für Menschenrechte, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Die Serben sollen sich täuschen, die NATO zerstört in Novi Sad die Brücken über die Donau bei laufendem Verkehr, das Zastava-Autowerk in Kragujevac, um die Präsenz der Arbeiter dort wissend, wie auch die Zentrale des serbischen Fernsehens bei laufendem Betrieb.

Um 19.41 Uhr läuft die »Operation Allied Force« der NATO mit Luftangriffen auf Ziele in Jugoslawien an. Der US-geführte Militäreinsatz ist der erste Krieg der NATO außerhalb eines Bündnisfalls und ohne UN-Mandat. Der 24. März 1999 ist eine Zäsur. Erstmals seit 1945 sind deutsche Soldaten wieder im Krieg, erstmals seit 1945 führen Staaten mitten in Europa gegeneinander Krieg – die vorausgegangenen Kriege nach den einseitigen Sezessionen Sloweniens, Kroatiens und Bosniens bis Mitte der 1990er Jahre waren Bürgerkriege.

Von Norditalien aus starten »Tornado«-Kampfflugzeuge der Bundeswehr, »Stealth«-Tarnkappenbomber, US-Jagdbomber vom Typ F 16 sowie vom Typ »Prowler«. Die insgesamt 70 Kampfjets sollen die Luftabwehr ausschalten. Auch Marschflugkörper kommen zum Einsatz. Die Angriffe zielen auf ganz Serbien, sowohl auf Ziele im Kosovo im Süden wie auch in der nördlichen Provinz Vojvodina, die an Ungarn grenzt. Auch die jugoslawische Teilrepublik Montenegro mit ihrer einladenden Adriaküste bleibt von der NATO-Aggression nicht verschont.

Kollateralschäden

Von Anfang an läuft die Kriegspropaganda auf Hochtouren: US-Präsident Clinton gibt vor, mit den Angriffen die Entschlossenheit der NATO zu demonstrieren und für den Frieden einzutreten. Mit dem entschlossenen Eingreifen zum Schutz unschuldiger Zivilisten im Kosovo würden amerikanische Werte und Interessen verteidigt. Der britische Premierminister Anthony »Tony« Blair droht: »Wenn es in der Region zu Gegenschlägen kommt, werden wir schnell und hart antworten.« Ziel sei, »die serbischen Militärkräfte so weit zu zerstören, dass ein weiteres Blutvergießen verhindert wird«.

In Deutschland informiert der Bundeskanzler in einer TV-Ansprache die Bevölkerung über den Beginn des Krieges, der angeblich keiner ist. »Wir führen keinen Krieg«, sagt Schröder, »aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Dies möchte ich gerade auch unseren jugoslawischen Mitbürgern sagen. Wir werden alles tun, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.« Mehr als 2.500 Menschen werden in den folgenden 78 Kriegstagen durch NATO-Angriffe getötet, der unselige NATO-Sprecher Jamie Shea wird für sie den Begriff »Kollateralschäden« prägen.

Die NATO wolle »weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern«, agitiert der deutsche Kanzler weiter, der selbst keinen Krieg führt, aber ein anderer: »Der jugoslawische Präsident Milošević führt (...) einen erbarmungslosen Krieg. Die jugoslawischen Sicherheitskräfte haben ihren Terror gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo allen Warnungen zum Trotz verschärft. Die internationale Staatengemeinschaft kann der dadurch verursachten menschlichen Tragödie in diesem Teil Europas nicht tatenlos zusehen.« Der neue deutsche Kriegskanzler weiter: »Mit der gemeinsamen, von allen Bündnispartnern getragenen Aktion verteidigen wir auch unsere gemeinsamen grundlegenden Werte von Freiheit, von Demokratie und von Menschenrechten. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Werte nur eine Flugstunde von uns entfernt buchstäblich mit Füßen getreten werden.« – Auch heute kommt es bekanntlich auf die Flugstunden an: bis nach Kiew in der Ukraine sind es zwei, das ist nah und rührt an, bis nach Rafah im Gazastreifen sind es vier. Offensichtlich zu weit weg.

Der Lagebericht der Nachrichtenoffiziere des Bundesverteidigungsministeriums vom 23. März, 15.00 Uhr stellt dagegen fest: »Das Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen Kräfte gegen die UÇK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden.« Tatsächlich wird erst das NATO-Bombardement die Massenflucht Hunderttausender aus dem Kosovo in das benachbarte Albanien auslösen. Der seinerzeit zuständige Brigadegeneral bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Heinz Loquai, berichtet dazu in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch »Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg«: »Vertreibungen und Flüchtlingsströme setzten ein, nachdem die internationalen Organisationen das Kosovo verlassen und die Angriffe begonnen hatten. D. h. der Krieg verhinderte die Katastrophe nicht, sondern machte sie in dem bekannten Ausmaß erst möglich. Die Frage, wie und warum die zweifellos vorhandenen Chancen zum Frieden verspielt wurden, ist dabei nicht nur historisch interessant. Sie ist wichtig für die zukünftige Gestaltung des Friedens in der geplagten Region. Der Frieden wurde u. a. verspielt,

– weil die meisten NATO-Staaten einseitig Partei gegen die Serben und für die Kosovo-Albaner nahmen. Hierdurch stärkte und ermunterte man die UÇK, und man förderte selbst bei gemäßigten Serben den Eindruck, dass die NATO ohnehin die Sache der Albaner betreibe,

– weil die Europäer den USA zu gefügig waren und den aufgebauten Zeitdruck hinnahmen, ohne sich der allmählichen Militarisierung der Politik zu widersetzen,

– weil die NATO glaubte, durch ihre Luftangriffe Milošević innerhalb kurzer Zeit zum Nachgeben zu zwingen und die Durchhaltefähigkeit eines diktatorischen Regimes unterschätzte.«

Gleich nach den ersten Luftangriffen der NATO erklärt Jugoslawiens Regierung am 24. März den Kriegszustand. Belgrad schließt die Grenzen und ruft den UN-Sicherheitsrat auf, dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Einhalt zu gebieten. Tatsächlich tritt auf Antrag Russlands das höchste UN-Gremium in New York zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. UN-Generalsekretär Kofi Annan betont zuvor, der Sicherheitsrat sollte an »jeder Entscheidung über Gewaltanwendung« beteiligt werden. Annan äußert »tiefes Bedauern«, aber auch Verständnis. Ein Mandat ist all das freilich nicht, die NATO bricht mit ihren Angriffen das Völkerrecht. Der Krieg, der bei der NATO nicht Krieg heißt, sondern humanitäre Intervention genannt wird, ist ein Akt der Aggression. Russlands UN-Botschafter Sergej Lawrow warnt vorausschauend, die »illegale Aktion« der NATO werde eher zu einer Verschärfung als zu einer Entspannung im Kosovo führen. Der Militärpakt solle nicht vergessen, dass seine Mitglieder den Vereinten Nationen angehörten und sich damit deren Charta untergeordnet hätten. Vergeblich fordert Jugoslawiens Botschafter bei den Vereinten Nationen, Vladislav Jovanović, ein sofortiges und bedingungsloses Ende der »Aggression«. In Beijing kritisiert der chinesische Staatspräsident Jiang Zemin die NATO-Angriffe ebenfalls. Wie Russland fordert die Volksrepublik deren Einstellung sowie eine Rückkehr an den Verhandlungstisch. – Im späteren Verlauf des Krieges wird die chinesische Botschaft in Belgrad durch NATO-Bomben zerstört. Präzisionstreffer. Versehentlich, wie es heißen wird.

»Es wird unterschrieben«

Wie heute steht der Bundestag weitestgehend stramm – im Gegensatz zur Bevölkerung. Noch in der ersten Kriegsnacht nennen die politischen Spitzen der regierenden Parteien SPD und Grüne wie auch die von CDU/CSU und FDP in der Opposition die NATO-Luftangriffe »unvermeidlich«. Bei den Grünen fällt regelmäßig die Wehrbeauftragte Angelika Beer negativ auf: »Hoffentlich reicht es nach diesem ersten Schlag und wir kriegen jetzt die Unterschrift unter den Friedensvertrag. Milošević muss verstehen: Es wird nicht mehr verhandelt, es wird unterschrieben.« Annalena »Russland ruinieren« Baerbock und Anton »Panzer-Toni« Hofreiter lassen grüßen.

Allein die PDS zeigt Haltung und fordert den Abbruch der Angriffe. »Der heutige Tag wird als schwarzer Tag für das gemeinsame Haus Europa den Menschen in Erinnerung bleiben«, mahnt seinerzeit Wolfgang Gehrcke namens der einzigen Antikriegsfraktion im Parlament. Heute, ein Vierteljahrhundert später, teilen Spitzenpolitiker seiner einstigen Partei die Kriegsziele der NATO im Stellvertreterkrieg gegen Russland, fordern Panzerlieferungen an die Ukraine und schwärzen Kriegsgegner als rechts an. O tempora, o mores. Was kann sich die NATO zum 75. Geburtstag mehr wünschen.

Gesprächsangebote aus Belgrad, übermittelt vom russischen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow, über ein Ende des Bombardements weist die NATO im Frühjahr 1999 selbstherrlich zurück. Ziel ist nicht mehr, Präsident Milošević zum Einlenken im Kosovo zu bewegen, sondern die Entmilitarisierung Jugoslawiens, Gründungsmitglied der Blockfreienbewegung in der Zeit des Kalten Krieges. Die NATO kündigt offensiv an, den »Krieg vor Miloševićs Haustür« zu tragen. Gemeint sind Bomben auf die Residenz und den Regierungssitz wie auch auf die dichtbewohnte Altstadt von Belgrad. Zerstört werden Ministerien und Medienhäuser.

Schon damals appelliert der Vatikan vergebens an die NATO, die Bombardierungen wenigstens über die Osterfeiertage einzustellen, um Raum für eine politische Verhandlungslösung zu öffnen und Hilfsorganisationen die Rückkehr in das Kosovo zu ermöglichen. Aber Papst Johannes Paul II. findet damals bei den NATO-Kriegern so wenig Gehör wie heute Franziskus, der mit seiner Forderung nach Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges in den NATO-Hauptstädten für Alarmstimmung sorgt. Und wie sich heute die Länder des globalen Südens nicht in die westliche Frontstellung im NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland einreihen wollen, hat auch der NATO-Völkerrechtsbruch 1999 Solidarität für Jugoslawien befördert. Kubas Botschafter in Belgrad, Omar Medina, wird gefragt, wann er und seine Mitarbeiter ihr Gastland zu verlassen gedenken. Antwort: »Wir werden so lange bleiben, wie es menschlich vertretbar ist. Zu den ethischen Grundprinzipien Kubas gehört schließlich, eine Nation, mit der wir Beziehungen auf der Grundlage gegenseitigen Respekts unterhalten, nicht im Stich zu lassen, wenn sie in Not ist.« Auch Kubas Vertreter bei der Menschenrechtskommission in Genf und sein Kollege im UN-Sicherheitsrat stellen sich vor »das Opfer der brutalen Aggression«: »Die Bomben, die heute auf Priština, Pančevo und andere Orte der Föderativen Republik Jugoslawien fallen, sind dieselben, die Kabul, Khartum, Tripolis, Bagdad, Bengasi und andere Städte getroffen haben, und sie unterscheiden nicht zwischen den Kindern von Jesus Christus und den Kindern Allahs, zwischen Militärs und Zivilisten, Serben und Kosovo-Albanern, zwischen Erwachsenen und Neugeborenen. Wir lassen uns nicht hinters Licht führen, das ist die alte Taktik der Mächtigen, des Teile und Herrsche.«

Brennendes Öl

In Pančevo setzt die NATO eines der großen Umweltverbrechen ihres Krieges in Gang. Der Militärpakt greift mehrere Raffinerien an. Zwei Wochen lang brennt das auslaufende Öl. Ein Großteil der Bevölkerung von Pančevo muss wegen der hohen toxischen Belastung der Luft evakuiert werden. Die riesige Giftgaswolke droht die nur 14 Kilometer entfernte Millionenmetropole Belgrad zu verseuchen. In einer zweiten Angriffswelle, kurz vor dem Waffenstillstand im Juni, wird das Zentrum der serbischen Chemieindustrie wiederholt bombardiert. Die NATO leistet mit ihren Präzisionsbomben ganze Arbeit, zerstört gezielt Düngemittelfabriken und das PVC-Werk. Hunderte Tonnen Ammoniak und Quecksilber versickern in den Böden. Noch Jahre später werden im Grundwasser giftige Chemikalien nachgewiesen. Die zulässigen Grenzwerte werden mehr als das Zigtausendfache überschritten, mit in Gang gesetzt von einer Partei, die sich den Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben hat.

Der Süden Serbiens wird von der NATO derweil mit Munition aus abgereichertem Uran verseucht. »Depleted Uranium« soll Panzer knacken. Vom italienischen Luftwaffenstützpunkt Aviano steigen US-amerikanische A-10-»Thunderbolt«-Flugzeuge auf und bringen die noch auf Generationen hin tödliche Last. Die sogenannten Warzenschweine sind speziell für den Erdkampf gegen Panzer, Truppenkonzentrationen und Stellungen konstruiert. Der Dokumentarfilmer und Autor Frieder Wagner berichtet in seinen Filmen »Deadly Dust – Todesstaub« (2007) und »Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra« (2003) über die grausamen Folgen der Kriegführung mit DU-Munition und über die Vertuschungsstrategie der Militärs, der Industrie und von Regierungen, aber auch jener der Medien und der Politik. Der berufliche Preis für den deutschen Filmemacher ist hoch: Nach seiner Aufklärungsdoku über die Auswirkungen von Uranmunition im Irak und dann in Jugoslawien bekommt der Grimme-Preisträger keine Aufträge mehr.

Der Filmemacher Moritz Enders begleitet den juristischen Kampf eines Rechtsanwalts, der persönlich betroffen ist und um Gerechtigkeit für alle kämpft. »Toxic NATO – Srđan Aleksić’s Long Way to Justice« heißt sein Film, in dem an die Folgen und Opfer des Einsatzes von Uranmunition durch die NATO im Kosovo und anderen Teilen im Süden Serbiens erinnert wird. Hohe Krebsraten in Südserbien, die NATO blockt ab. Im Unterschied zu italienischen Soldaten, die im DU-verseuchten Kosovo im Einsatz waren, gibt es für Serben seitens der NATO bis heute keine Entschädigung, keine Entschuldigung, keine Gerechtigkeit. »Toxic NATO« bleibt bei den Öffentlich-Rechtlichen im Giftschrank. Zu sehen ist die Dokumentation, wenn Friedensgruppen eine Filmvorführung organisieren. So bleibt das Problembewusstsein in der Bevölkerung klein und der Aufschrei über die Belieferung der Ukraine mit Uranmunition durch die USA heute aus.

Systematische Desinformation, Fake News, Lügen – das praktiziert die NATO lange, bevor es Twitter, Facebook, VK, Telegram und Tik Tok gibt. 1999 sitzen die wirkmächtigen Trolle im Brüsseler Hauptquartier und den nationalen Ministerien, die der Bevölkerung täglich einen Krieg verkaufen, der Völkerrecht bricht und länger dauert, als seine Planer je dachten. UÇK-Kommandeur Hashim Thaçi, der im Juni 2020 vom Haager Tribunal wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit während des Kosovo-Krieges angeklagt werden wird, kann im ZDF von Konzentrationslagern im Kosovo berichten. Im Stadion von Priština seien 100.000 Menschen interniert. In einem anderen KZ seien 20.000 Menschen gefangen. Über den Verbleib von 5.000 Kosovo-Albanern, die von serbischen Sicherheitskräften in einer Schule gesammelt worden seien, sei seit Tagen nichts bekannt. In der Presse ist in dicken Lettern zu lesen, »Serben-Killer treiben Albaner in KZ-Zonen«. Nichts davon ist wahr, wird nach und nach klar. Nach dem Krieg.

Bei der NATO wird der ewig grinsende Sprecher Jamie Shea mit seinem täglichen Euphemismus die hässliche Fratze des Krieges. Shea feilt am antiserbischen Feindbild, er leugnet an NATO-Verbrechen, was zu leugnen, räumt halbherzig ein, was nicht mehr zu verheimlichen ist. Ein Vierteljahrhundert später, die Haare weiß, das Gesicht voller und in gut­dotierter NATO-Rente, wird der Berufslügner von TV-Anstalten allen Ernstes zum Ukraine-Krieg befragt.

Lügen über Lügen

Bei der Bundesregierung besorgt 1999 der Verteidigungsminister das Lügen. Die Serben »spielen mit abgeschnittenen Köpfen Fußball, zerstückeln Leichen, schneiden den getöteten Schwangeren die Föten aus dem Leib und grillen sie«, lautet etwa eine Schilderung Rudolf Scharpings, als wäre er vor Ort persönlich dabei gewesen. Die dreisteste Manipulation seines Ministeriums ist die Präsentation des »Potkova-Plans«, des »Hufeisenplans«, der beweisen soll, dass Milosevic und seine Serben die angeblich systematische Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo von langer Hand und en détail geplant haben. Das Papier ist so echt wie weiland die Hitler-Tagebücher des Stern. Im Gegensatz zur Hamburger Illustrierten wird sich die Bundesregierung nie für das Produkt aus der geheimdienstlichen Fälscherwerkstatt entschuldigen. Scharpings Hufeisenlüge zielt darauf ab, immer weitere und immer härtere Bombardierungen Serbiens zu rechtfertigen.

Unterstützung kommt vom deutschen Außenminister Fischer, der in seinen Brandreden den ganz großen Bogen zu Auschwitz schlägt, um seine nominell pazifistische Partei im Krieg zu halten. An Dreistigkeit übertroffen wird das deutsche Duo 2003 durch Colin Powell. Der US-Außenminister legt dem UN-Sicherheitsrat angebliche Beweise für ein irakisches Massenvernichtungsprogramm vor. 76 Minuten dauert die Lüge für Washingtons Krieg, zusammengebastelt für die Weltöffentlichkeit als Multimediashow mit Tonbandaufzeichnungen, Satellitenaufnahmen und Zeichnungen von angeblichen mobilen Laboren für biologische Kampfstoffe. Powell wird vor seinem Tod 2021 seinen Lügenauftritt einen »Schandfleck« in seiner Karriere nennen.

Rudolf Scharping und Joschka Fischer aber schweigen und wähnen sich wohl weiter im Recht. Jedenfalls haben sie nicht protestiert, als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock nach dem 24. Februar 2022 meinte: »Was hier gerade mitten in Europa passiert, war für jemanden aus meiner Generation bisher unvorstellbar. Es ist der Moment, in dem der Angriffskrieg nach Europa zurückgekommen ist.« Nein, das Patent auf den ersten Angriffskrieg mitten in Europa halten ihre Vorgänger im »rot-grünen« Kabinett zusammen mit der US-geführten NATO.

Rüdiger Göbel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 6. Mai 2019 über das nämliche Thema: Präzisionstreffer und Streubomben.

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Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (25. März 2024 um 11:20 Uhr)
    Der militärische Teil des Krieges war eine klare und unzweideutige Demonstration an Russland, was es erwarten würde, würden sie nicht folgsam ggü. dem Westen sein. Und er war die Erweckung des russischen Militärs aus Niedergang und Apathie. Die Analysen des Generalstabs waren eindeutig und umfassend, insbesondere was Luftabwehr und weltraumgesteuerte Raketen und Marschflugkörper anging. Insofern war dieser Krieg der Beginn der russischen strategischen militärischen wie politischen Autonomie und des Wiederaufbaus des Militärisch-Industriellen-Komplexes. Ein ähnliches Dokument wie in Rambouillet würde der Westen heutzutage nur allzugern den Russen vorlegen. Aber das nicht mehr vorstellbar.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (25. März 2024 um 08:34 Uhr)
    Und alle diese Massenmörder sind noch immer frei und unbehelligt mitten unter uns und verprassen fröhlich dicke fette Pensionen in Anerkennung ihre einstigen großen »humanitären« Taten, finanziert von dem belogenen und betrogenen Volk von damals und heute – von uns! Wer Mörder schützt und mit durchfüttert, macht sich zum Mittäter, zu Kollaborateur, und damit mitschuldig!

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