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Aus: Ausgabe vom 21.03.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Mehrwertproduktion

Das Joch der Jobs

Internationale Arbeitsorganisation präsentiert Studie: Extraprofite durch Zwangsarbeit und Schuldenknechtschaft. Europa liegt an erster Stelle
Von Gerrit Hoekman
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Pure Plackerei, Lohn- und Sozialdumping im afghanischen Bergbau (Chinarak, Provinz Baghlan, 12.11.2022)

Die Bilanz ist dramatisch: 2021 mussten an jedem Tag schätzungsweise 27,6 Millionen Menschen auf der Welt zwangsarbeiten. Das geht aus der Studie »Profits and Poverty: The Economics of Forced Labour« (Profite und Armut: Die Ökonomie der Zwangsarbeit) hervor, die am Dienstag von der International Labour Organization (ILO), der Internationalen Arbeitsorganisation, vorgestellt wurde. Die Nutznießer der Zwangsarbeit erzielten dabei einen Profit von umgerechnet mehr als 217 Milliarden Euro per anno – ein Anstieg von 37 Prozent im Vergleich zu 2014. »Bei diesen illegalen Gewinnen handelt es sich um Löhne, die rechtmäßig in die Taschen der Arbeiter gehören, aber statt dessen in den Händen ihrer Ausbeuter bleiben, als ein Resultat ihrer Zwangspraktiken«, so die ILO. Als Zwangsarbeit definiert die Organisation »jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung einer Strafe verlangt wird und für die sich diese Person nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat«. 2021 waren davon 2,7 Millionen Menschen mehr betroffen als noch im Jahr 2016.

Der Anstieg ist »sowohl auf die steigende Zahl der zur Arbeit gezwungenen Menschen als auch auf höhere daraus erzielte Gewinn zurückzuführen«, so die ILO. Mit 77,5 Milliarden Euro ist der Gesamtprofit aus erzwungener Mehrwertproduktion in Europa und Zentralasien am höchsten. Zu dieser Region zählen rund 50 Länder von Island über Deutschland und die Türkei bis Russland. Die Staaten der arabischen Welt bilden in dieser Statistik mit einem Gewinn von 17 Milliarden Euro die Schlusslichter. Betrachtet man den Gewinn, den die Ausbeuter im Schnitt mit jeder und jedem Zwangsarbeitenden erzielen können, liegt Europa ebenfalls an erster Stelle, danach folgen aber bereits die arabische Welt und die USA.

Zwangsarbeit ist in fast allen Bereichen der Wirtschaft verbreitet: im Bergbau und Dienstleistungsgewerbe, in der Industrie, der Landwirtschaft und der Hausarbeit. Mit Zwangsprostitution verdienen die kriminellen Ausbeuter mit Abstand das meiste Geld. Weltweit werden mindestens 6,2 Millionen Menschen mit Gewalt und Erpressung gezwungen ihre Körper zu verkaufen, in allererster Linie natürlich Frauen und Kinder. Die Dunkelziffer dürfte allerdings um einiges höher liegen. »Auf erzwungene kommerzielle sexuelle Ausbeutung entfallen mehr als zwei Drittel (73 Prozent) der gesamten illegalen Gewinne«, hat die ILO errechnet. Auch der Gewinn, den die Ausbeuter mit jeder unfreiwilligen Sexarbeiterin machen, ist immens: 25.100 Euro pro Jahr. Ein riesiger Unterschied zu allen anderen Bereichen.

Geflüchtete sind ebenfalls besonders gefährdet, weil sie sich häufig kommerziellen Fluchthelfern finanziell ausgeliefert haben und ihre Schulden mit Zins und Zinseszinsen durch Zwangsarbeit zurückzahlen müssen. Schuldenknechtschaft kann aber praktisch überall dort entstehen, wo der Ausbeuter finanziell in Vorleistung tritt. Sei es, dass er die Reisekosten und die Gebühren für das Visum bezahlt oder korrupte Beamte bestochen hat. Oft müssen Arbeiter auch für ihre Ausrüstung oder Arbeitskleidung selbst aufkommen und nehmen dafür einen Kredit auf. Ist die Arbeit informell, was laut ILO beispielsweise auf 80 Prozent der Hausangestellten zutrifft, sind zu geringe Löhne und unbezahlte Überstunden üblich. »Das Fehlen formeller Verträge bedeutet weniger Lohntransparenz und eine größere Anfälligkeit für Lohnmissbrauch«, stellen die Studienmacher fest. Ähnliches gelte auch für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.

»Zwangsarbeit setzt den Teufelskreis von Armut und Ausbeutung fort und verletzt die Menschenwürde im Kern. Wir wissen jetzt, dass die Situation nur noch schlimmer geworden ist«, resümiert der Generaldirektor der ILO, Gilbert F. Houngbo, auf der Homepage der Organisation – und empfiehlt »die Stärkung der rechtlichen Rahmenbedingungen, die Bereitstellung von Schulungen für Vollzugsbeamte, die Ausweitung der Arbeitsaufsicht auf Hochrisikosektoren und eine bessere Koordinierung zwischen Arbeits- und Strafverfolgung«.

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