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Aus: Ausgabe vom 21.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Die Rausreder

Völkermord in Leningrad
Von Reinhard Lauterbach
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Gedenken an die Opfer der Leningrad-Blockade (St. Petersburg, 26.1.2019)

Man könnte die Frage für akademisch halten, ob die Belagerung von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht ein Kriegsverbrechen war oder ein Akt des Völkermordes. Aber so ganz akademisch ist sie nicht. Vor ziemlich genau sieben Jahren erläuterte die Bundesregierung einer Gruppe von Abgeordneten der Partei Die Linke, die wegen Entschädigungsmöglichkeiten für Opfer der ­Blockade eine kleine Anfrage gestellt hatten, den Unterschied: »Schädigungen, die nicht aus rassisch motivierter Verfolgung, sondern aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, (…) werden (…) durch Reparationsvereinbarungen von Staat zu Staat geregelt. Es obliegt dem Staat, der Reparationen empfangen hat, die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen«. Und da die Sowjetunion nach dem Juniaufstand in der DDR 1953 auf weitere Reparationen von deren Seite verzichtet hatte, war die BRD wegen der Form, in der sie 1990 die DDR übernahm, fein raus, obwohl sie nie Reparationen an die UdSSR geleistet hatte: »Die Blockade von Leningrad ist eines der vielen schrecklichen deutschen Kriegsverbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion, an die die Erinnerung weiterhin wachgehalten werden muss. Unter dem Blickwinkel von rechtlichen Ent­schädigungsleistungen ist das Thema im deutsch-russischen Verhältnis allerdings abgeschlossen«.

»Eines der vielen schrecklichen Kriegsverbrechen« – das ist die billigste Art und Weise, sich aus einer Verantwortung herauszureden: Es waren ja sooo viele, da kommt es auf eines mehr oder weniger auch nicht mehr an. Gipfel des amtlichen Berliner Zynismus war die dort geäußerte Behauptung, den sowjetischen Juden habe ausnahmslos die Ermordung gedroht, den Bewohnern von Leningrad dagegen nicht. Sie mussten nur 900 Tage Hunger aushalten.

Ob Russland ernsthaft glaubt, mit der nun geforderten Einstufung der Blockade als Völkermord durch den Bundestag noch irgend etwas für die wenigen bis heute Überlebenden herauszuholen, kann man bezweifeln. Allerdings hat Moskau die Quellenlage auf seiner Seite. So erklärte am 20. Juni 1941 der für das Ostministerium vorgesehene Alfred Rosenberg explizit die genozidale Absicht der deutschen Hungerpolitik in der zwei Tage später anzugreifenden UdSSR: »Wir sehen durchaus nicht die Verpflichtung ein, (…) das russische Volk mit zu ernähren. (…) Zweifellos wird eine sehr umfangreiche Evakuierung notwendig sein, und dem Russentum werden sicher sehr schwere Jahre bevorstehen.« »Dem Russentum« – das meint das Volk, das ist breiter gefasst als die ohnehin schon verbrecherischen Absichten gegenüber den »jüdischen Bolschewisten«. Die Naziführung hatte das »slawische Element« zu »unnützen Essern« erklärt – mit der bewusst eingegangenen Konsequenz: »Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.« Was braucht es noch für den Völkermord?

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (20. März 2024 um 22:39 Uhr)
    Sie wurden ja alle gemeinsam belagert und starben gemeinsam an Hunger. Warum erhalten dann die jüdischen überlebenden Leningrader von Deutschland eine Entschädigung, alle übrigen nicht? Deutschland kann es einfach nicht lassen und betreibt sogar noch bei der Entschädigung Selektion. Auch das ist Rassismus. Dieses Mal trifft es andere, um Geld zu sparen. Nein, sie werden nicht vergast, nur beleidigt. Aber man muss dennoch eine Auswahl treffen. Ich bin davon überzeugt, dass auch die jüdischen überlebenden Opfer, welche eine Entschädigung erhalten, es als eine Beleidigung empfinden, wenn ihre Nachbarn von gegenüber aus dem Treppenhaus sie nicht erhalten. Die Leningrader hielten zusammen. Der Bundestag, welcher die Hungersnot in der UdSSR als bewussten »Holodomor« und Völkermord an den Ukrainern einstufte, entgegen dem Rat vieler westlicher Historiker, wird dem Ersuchen der Einstufung der Leningrader Blockade selbstverständlich nicht stattgeben. Alle, die dagegen stimmen, sind in den Augen der Russen verachtenswerte Krämerseelen. Ach, ich vergaß: Darüber wird ja gar nicht im Plenum abgestimmt werden wie beim »Holodomor«. Jeder Abgeordneter ist eben nur seinem Gewissen verantwortlich. Dazu gehört dann auch, bestimmte Dinge erst gar nicht auf die Tagesordnung zu setzen. Die gesamte Kriegsplanung Deutschlands beruhte in Bezug auf Russland auf Völkermord, auch ohne Leningrad. Es waren ca. 30.000 Hungertote in der UdSSR bis Kriegsende eingeplant. Wenn ich mir die augenblickliche Hetze in Deutschland gegen Russland anschaue, scheint mir – abgesehen von einer starken Minderheit, aber gesamtdeutsch eben nicht der Mehrheit – dort das grundlegende Problem zu bestehen: Ein selektives Gewissen. »Die Guten ins Töpchen, die Schlechten ins Kröpfchen.« Hat man denn überhaupt ein Gewissen, wenn es selektiv ist? Handelt man menschlich, wenn das selektiv nur für bestimmte Menschen gilt?
    Die Russen kennen die friedlichen Tauben aus Deutschland bzw. den »Friedensnobelpreisträger« EU zur Genüge und können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie selektiv erneut »ins Kröpfchen« kommen sollen. Hitler wurde ja auch einmal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, allerdings vor dem Zweiten Weltkrieg. Also wenn Kissinger ihn nach (!) dem von ihm führend verantworteten Vietnamkrieg bekam, hätte ein Hitler heute vor dem nächsten Krieg durchaus gute Chancen für den Preis, falls er vorsorglich das richtige Land bekämpfen würde, welches unseren Frieden bedroht, unsere Frauen vergewaltigt, unsere Kinder entführt. Eine Skulptur vor der russischen Botschaft wurde unbeanstandet von der Polizei so auf gestellt, dass am Wahltag alle wartenden Wähler daran vorbeigehen mussten. Sie stellte eine mit Blut gefüllte Badewanne in den ukrainischen Nationalfarben dar, in der sich Putin, bewaffnet mit einer überdimensionalen Körperbürste wollüstig mit ukrainischem Blut begoss. (…)

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