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Aus: Ausgabe vom 19.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Postpunk

Berlinale zum Anhören

Postpostpolitische Arbeitszeitverlängerung: Idles in Berlin
Von Ken Merten
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»My mother worked 17 hours 7 days a week« – Idles (Berlin, Max-Schmeling-Halle, 15.3.2024)

Ob richtiges oder falsches entscheidet sich nicht an einem Freitag abend: Das Leben im Falschen, das ist, wie folgt. Chemie Leipzig ließ sich unter Flutlicht im Turnvater-Jahn-Sportpark von Altglienicke in der vierten Liga in Herrenbolzen mit 0:4 vermöbeln. Man musste es nachschauen, denn die auf den Rängen postierten Chemikerinnen und Chemiker ließen sich nach außen schallend von der Watsche nichts anmerken.

In die daneben stehende Max-Schmeling-Halle hineingelassen, merke ich dann, wie wenig ich weiß: Soviel Zuspruch außerhalb der britischen Inseln für die Postpunker Idles hätte ich nicht erwartet. Aber meine Naivität kennt keine Grenzen und so auch nicht die Zahl an Berliner Craft-Beer-Pansen und Sozialarbeiterinnen, Graumelierung, Doc Martens und Connewitz-Ponys von jenen präsentiert, die noch rechtzeitig eine Betreuung für das Kind daheim gefunden haben. Ein paar jüngere Semester sind auch anwesend und tragen postpostpolitisch »Eat the Rich«-Shirts.

»Schade, das mit dem Rauchverbot«, sagt eine von den beiden, mit denen ich da bin. »Dann riecht man die Menschen um einen rum.« Nicht verboten: Der Genuss sechs Euro teurer Menschenrechtsverletzungen, in der Indira-Gandhi-Straße gebraut. Es gibt Krisenprofiteure, die soll bitte ohne weitere Verzögerung der Blitz beim Scheißen treffen.

Apropos Verzögerung: Die Vorband Ditz aus Brighton ist zu loben, weil sie wohl sehr pünktlich war. Wir hingegen nicht, stehen erst im oberen Rang, als das Konzert schon tief in Idles’ »Idea 01« steckt. Das ist auch der Opener des aktuellen Albums »Tangk«, Langspieler Nummer fünf der Bristoler und der ruhigste bisher. »These are the things we lost in the fire«, singt da der Bastille reminiszierende Joe Talbot zu Herzschlagbeat und Mark Bowens Pianonieselregen. Aber so wie es ist, wird es nicht bleiben: »Gift Horse« aktiviert das Parkett, Pogo, darauf das erste von vielen »Fuck the King«-Rufen (Talbot: »Great Britain’s new national anthem!«). Sowieso Shouts: Die der Band im Kehrreim (»Look at him go!«) zeigen nicht nur den royalen Besetzern Buckinghams den Notausgang, sondern auch, wie nah die Studioversionen der Songs auch auf »Tangk« an dem gebaut sind, was das Quintett live abliefert.

Allenthalben Arbeit: Während sich die obligatorischen Bierkuriere mit ihren Kanistern den Rücken verderben und dessen bierähnlichen Inhalt nicht für sechs, sondern für acht Tacken den halben Liter an jene ausschenken, die dem inäquivalenten Tausch zustimmen. Die einzigen, die einen ruhigen Abend haben, sind die Besatzungen der Fressstände. Berlin ist satt. Idles liefern trotzdem: Fast zweieinhalb Stunden fegt man durch die eigene Diskographie, Talbot pendelt die Hüften, Adam Devonshire kriegt zur Strafe, weil er Bassist ist, nur einen Quadratmeter neben dem Drumset von Jon Beavis. Lee Kiernan rabaukt im Kreise, und Bowen durchkreuzt mit seinem Kleid aus dem Fundus einer Verfilmung von »Pride and Pre­judice« nicht nur Geschlechterrollen mit ihren bräsigen Klamottennormen, er stürzt auch mal an den Bühnenrand, um zu klampfen, mal trippelt er nach hinten, wo die Tasteninstrumente stehen. Performative Arbeitszeitverlängerung im never ending Thatcherism: »My mother worked 15 hours 5 days a week / My mother worked 16 hours 6 days a week / My mother worked 17 hours 7 days a week.«

Das Lob der Mutter von Talbot kommt später auch: Sie, die sich kaputtsoff, sei ihm die Lehrerin gewesen, die ihm vermittelt hat, »who to listen to, who to read and who to fuck off«. Und zwischen all dem rauen Punk, dem pfiffig übermittelten Hass auf die Tories und den mando-diaoigen Einschüben, bei denen man sich doch kurz im Soundtrack zu »FIFA 04« wähnt, passieren sie dann unweigerlich doch: die Berlinale-Momente.

»The Wheel« (»Can I get a hallelujah? / Hear it from the back now?«) wird den »innocent victims of Palestine« gewidmet. Spitzfindig fehlgenau könnte man sein, wiese man auf das »of« hin, an dessen Stelle eben kein »in« geäußert wurde, um gegen derlei Forderungen anzuargumentieren wie dem von Gerrit Bartels in seinem Konzertbericht für den Tagesspiegel, in dem es heißt, ein »Fuck the Hamas« hätte dem Abend gutgetan. Auf der Tatsachenebene spiegelte das von der Bühne vielfach skandierte »Viva Palestina« dann doch wider, dass über Nahost andernorts anders diskutiert wird. Wie scharf die Waffen der Kritik dabei sind, das mag man dann wiederum bezweifeln, wenn allenthalben auf Liebe in der Welt gepocht wird, Talbot alles – also näher an der Wahrheit nichts – an Berlin und seinen Kindern »beautiful« findet und der Antifaschismus hinkt, wenn man Migrantinnen und Migranten dafür zu preisen habe, sie machten »our country a greater fuckin’ place«. Fürwahr: Meine Kollegen Bülent, Kharim und Osama will ich ja nicht mehr missen, aber die Zwänge hinter ihren Ortswechseln sollte man besser nicht verschweigen.

Sei’s drum, das Statementfeuer von der Bühne hatte Effekt; auf dem Weg zu bezahlbarerem und schmackhafterem Getränk wurde eifrig geredet, über Äquidistanz, Ausbeutung und Liebe.

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