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Aus: Ausgabe vom 18.03.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Geschichte Wiens

Kein schönes Leben

Wo bleibt die Polizei? Günther Haller über das Wien des Jahres 1913
Von Dieter Reinisch
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Wien, Metropole der Habsburgermonarchie an der Donau und Anziehungspunkt unterschiedlicher Menschen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg: Hier ging der tschechoslowakische Staatsgründer Tomáš Masaryk zur Schule, Gustav Klimt und Egon Schiele erlangten Weltruhm, Sigmund Freud und Ludwig Wittgenstein wurden intellektuell geformt.

Es ist eine schöne Erzählung, die sich den Millionen Touristen verkaufen lässt, die jährlich in der österreichischen Hauptstadt die Sehenswürdigkeiten aufsuchen. Literarisch vor einigen Jahren leserlich in Szene gesetzt von Florian Illies. Doch wie an diesem Ort des »schönen Lebens«, der Bildung und der Kunst eine Politik entstehen konnte, die 1914 zum Weltkrieg führte, und wie dann ab 1918 eine Republik entstand, die 15 Jahre später in eine faschistische Diktatur überging, können (und sollen) diese Anekdoten über das »alte Wien« nicht erhellen.

Einen anderen Blick auf die Hauptstadt des moribunden Habsburgerreichs findet sich in einem Buch des Historikers Günther Haller, das mit einem schrägen Titel aufwartet: Um »Stalin, Hitler, Trotzki, Tito 1913« in Wien soll es gehen. Was die vier außer der zufälligen Tatsache, dass sie sich in diesem Jahr in Wien aufhielten, miteinander verbunden haben soll, bleibt indes unklar. Klar ist nur, dass der Autor unterschiedslos alle – den Faschisten und die drei kommunistischen Politiker – als zukünftige »Diktatoren« und »Ideologen« ablehnt.

Sieht man von diesem denkbar flachen Ansatz ab, weckt das Buch durchaus Interesse, weil es das Wien dieser Zeit nicht idealisiert. Als Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie war die Stadt Anziehungspunkt für Arbeitsmigranten aus dem gesamten Reich, vor allem den östlichen Ländern. In den 1860er Jahren wurde die Stadtbefestigung niedergelegt, im Zuge der Weltausstellung wurden unzählige Prunkbauten errichtet: Oper, Rathaus, Parlament, Börse, Universität und Rotunde, die, bis es ein Brand in den 1930ern zerstörte, das flächenmäßig größte Gebäude Europas war. Errichtet wurden die Bauten vor allem von Arbeitsmigranten aus Böhmen und Mähren.

Die billigen Arbeitskräfte erwarteten nur Ausbeutung und Elend. Während sie für das wohlhabende Bürgertum prunkvolle Gebäude errichteten, die innerhalb des Gürtels bis heute Wiens Stadtbild prägen, lebten sie selbst in der damaligen Vorstadt in weitreichenden Slums.

Anhand der Aufenthaltsorte und Wege von vier so unterschiedlichen Politikern erzählt Haller im Grunde die Geschichte von Klassen, Migration und der Industrialisierung vor dem Ersten Weltkrieg. Stalin, Hitler, Trotzki und Tito lebten hier gleichzeitig und in Armut. Stalin verfasste in Wien seine Schrift über die Nationalitätenfrage. Eher als eine irgendwie hilfreiche Geschichte der vier Protagonisten ist Hallers für ein breites Publikum geschriebenes Buch ein historisches Porträt von sozialer Ungleichheit und des Elends des von der Metropole angezogenen Industrieproletariats am Ende der Habsburgermonarchie. Der marxistische Leser muss dabei über die oft plumpe und geradezu alberne Sichtweise des Autors hinwegsehen, sobald es um politische Wertungen geht. »Hätte die Wiener Polizei geahnt, dass hier ein steckbrieflich gesuchter Terrorist ankam, ein marxistischer Fanatiker, hätte sie schnell reagiert«, sinniert Haller gleich am Anfang bei Gelegenheit der Ankunft Stalins in Wien im Januar 1913.

Günther Haller: Café Untergang. Stalin, Hitler, Trotzki, Tito 1913 in Wien. Molden, Wien 2023, 192 Seiten, 27 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz P. aus Wien (18. März 2024 um 10:04 Uhr)
    Immer fein die Beiträge von Journalist Reinisch aus Wien in der jW. In seinem letzten Absatz, über die verantwortungslose Albernheit eines lokal anerkannten Historikers Haller, dem Verfasser des besprochenen Werkes, führt Reinisch gut die Verblendung und Vertrottelung eines guten Teils der hiesigen konservativen akademischen Klasse vor, wenn es gegen das böse sozialistische Jugoslawien ging, und nun wieder gegen Russland geht.

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