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Aus: Ausgabe vom 14.03.2024, Seite 12 / Thema
Nationale Moral

Bedingungslose Einheit

In Zeiten des Krieges geraten abweichende Meinungen schnell unter Verdacht und werden an den Rand gedrängt. Die Gesinnungswende kommt voran
Von Johannes Schillo
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Protest gegen die Entlassung Ulrike Guérots vor dem Arbeitsgericht Bonn (28.4.2023)

Die Meinungsbildung in Zeiten des Krieges und seiner Vorbereitung geht ihre eigenen Wege. Bis der Notstandsfall eintritt und das Kriegsrecht ausgerufen wird – mit seiner offiziellen Mediengleichschaltung, wie etwa in der Ukraine demonstriert –, bleiben Meinungs- und Pressefreiheit in Kraft. Aber die nationalmoralische Leitlinie, die fürs öffentliche Meinen gilt, ändert ihren Charakter. Eine neue Art der Staatstreue ist verlangt und bringt gleich ihre eigene »Hermeneutik des Verdachts« (siehe jW, 20.12.2023) mit sich.

In Deutschland, das sich explizit auf »Kriegstüchtigkeit« (Boris Pistorius) einstellt, ist das jetzt zu besichtigen. Schrieb der Militärexperte Sönke Neitzel (Taz, 7.3.2022) noch kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs rückblickend auf die Ära Merkel: »Begriffe wie ›Kriegsbereitschaft‹ waren im politischen Berlin nicht zu vermitteln, auch wenn alle wussten, dass es in letzter Konsequenz genau darum ging«, so kann man nach der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen »Zeiten­wende« mittlerweile von einer regelrechten Gesinnungswende sprechen. Die Fachleute sind sich einig, wie Norbert Wohlfahrt in jWDer Wille zum Krieg«, 6.2.2024) dokumentierte: Die Sicherheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte habe die Notwendigkeit des Krieges nur ungenügend ins Auge gefasst und eine naive Vorstellung von »Wohlstandsvermehrung« gepflegt. Mit einer solchen Friedenspolitik, die »den Feind nicht denken« (Joachim Gauck) will, also nur als Kapitulation vor ihm zu werten sei, müsse jetzt endlich Schluss sein.

Einheit von oben und unten

Wer sich an der Einigkeit nicht beteiligt, hat schlechte Karten. Miesmacher beim nationalen Erfolgsanspruch sind natürlich immer unerwünscht. Doch der imperialistische Charakter der vierten Gewalt im Staate tritt da schlagend hervor, wo der Übergang zu militärischer Gewalt ansteht und wo etwa eine Nation wie die BRD ihre frühere patriotische Moral – die zwar heftigste Feindbildpflege gegen Osten einschloss, aber mit einem durch den Zweiten Weltkrieg geläuterten Friedensidealismus noch alle Auslandseinsätze, ja sogar den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf dem Balkan begleitete – ad acta legt: »Die entscheidende Bewährungsprobe der bedingungslosen Einheit von Volk und Führung findet da statt, wo sich die Staatsmacht um des nationalen Ganzen willen von den Interessen, denen sie um ebendiesen großen Ganzen willen dient, definitiv emanzipiert. Nagelprobe ist die Kriegsbereitschaft der Nation.«¹

Die Öffentlichkeit braucht dafür, wie das deutsche Beispiel zeigt, keine großartigen Eingriffe von oben. Es geht – zwar nicht automatisch und in jeder Hinsicht, aber im Grunde – »ganz ohne Zensur«, wie Renate Dillmann in der jungen Welt (13.1.2024) schrieb. Dillmann verwies auf die jüngsten militärischen Entwicklungen in Nahost und betonte, dass für die Öffentlichkeit hier »von Anfang an eine nationale Leitlinie« verbindlich war. Dies wurde von den etablierten Medien aber nicht »als Anschlag auf ihre viel gerühmte Freiheit begriffen, sondern als Auftrag wahrgenommen. Sie haben sich darin ebenso als Medium bewährt, das die Vermittlung zwischen Staat und Bürgern gewährleistet, wie als vierte Gewalt im Staat, auf die Verlass ist. Das alles ohne staatliche Gleichschaltung und zentrale Direktive. Gespenstisch!«

Erstaunlich, aber hinsichtlich der »bedingungslosen Einheit« konsequent, ist dabei die Tatsache, wie wenig heute an Abweichung von der gängigen Kriegsbereitschaft und Kriegsmoral genügt, um bei den Machern der Öffentlichkeit, bei Behörden oder auch, wie im Fall des Wissenschaftsbetriebs, bei eilfertigen Kollegen unangenehm aufzufallen. Natürlich wird der Vorwurf der Gleichschaltung von den Verantwortlichen immer wieder zurückgewiesen, wobei die BRD-Apologetik meist doppelt argumentiert: Erstens ist in Russland alles viel schlimmer, wo ein kritischer marxistischer Soziologe wie Boris Kagarlizki eingesperrt oder der alternative Präsidentschaftskandidat Boris Nadeschdin von der Wahl ausgeschlossen wird; und zweitens gibt es in Deutschland bislang nur wenige Einzelfälle (Gabriele Krone-Schmalz, Patrik Baab, …), die zudem alle ihre Besonderheiten aufweisen, jedenfalls nichts mit politischer Zensur zu tun haben.

Es stimmt, es handelt sich nur um ein paar Fälle, die man fast an zwei Händen aufzählen kann. Ihre Produktivkraft liegt jedoch darin, dass jeweils ein Exempel statuiert wird, das dann seine Wirkung tut. Ein prominentes Beispiel dafür ist der »Fall Ulrike Guérot«.

Kampagne gegen Abweichung

An ihm zeigt sich, wie (zivil-)gesellschaftliche Wachsamkeit unter der gegebenen nationalen Leitlinie als Selbstzensur wirkt und gleichzeitig dazu führt, dass dann doch noch im klassischen Sinne von Behörden oder Institutionen maßregelnd eingegriffen wird. Da bekommen »Professoren, die als Anhänger des ›freien Meinens‹ im Wissenschaftsbetrieb den einen oder anderen kritischen Traktat veröffentlicht haben, zu spüren, dass sich ihre Wissenschaft ebenfalls unter den herrschenden politischen Konsens zu beugen hat«, schreibt Freerk Huisken in seiner Flugschrift »Frieden«.² Huisken kommt hier anschließend auf den Bonner Fall zu sprechen und zitiert den Kündigungsbeschluss des Unirektorats, wo es hieß, die Freiheit von Forschung und Lehre sei »ein Privileg, das jedoch auch mit großer Verantwortung einhergeht«. Huisken kommentiert: »Und ›große Verantwortung‹ besteht darin, ohne Maßregelung und Zensur von oben der richtigen Parteilichkeit das wissenschaftliche Gewand zu verpassen.«

Worum geht es? Ulrike Guérot, Politikprofessorin an der Universität Bonn, hatte zusammen mit dem Wissenschaftler Hauke Ritz Ende 2022 das Buch »Endspiel Europa« vorgelegt, in dem sie sich unter anderem dafür einsetzen, dass die deutsche Politik beim Ukraine-Krieg die Möglichkeiten von Friedensverhandlungen auslotet, statt auf Kriegslogik zu setzen. Dazu beschwören die Autoren die Vision einer kontinentalen, föderalen Aussöhnung Europas, deren Tradition sie in ihrem Buch aufarbeiten und deren Scheitern in der aktuellen Auseinandersetzung sie beklagen. Die Hauptprovokation – die These, dass Wladimir Putin den Krieg nicht aus heiterem Himmel begonnen hat, sondern durch einen von langer Hand geplanten NATO-Aufmarsch provoziert wurde, dass es also eine Vorgeschichte der Militarisierung gab – ist dabei gut belegt und wird auch differenziert, ohne Schwarzweißmalerei vorgetragen.

Die offenkundige Schwäche des Buchs ist dagegen, dass es seinen Ausgangspunkt explizit bei einem »Traum« von Europa nimmt, also gar nicht von der Sachlage, sondern von einer Wunschvorstellung herkommt (für die sich allerdings illustre Namen wie Jean Monnet, Jacques Delors, ­Helmut Kohl, Michail Gorbatschow anführen lassen). Daher ist festzuhalten: Der Essay ist noch nicht einmal in der Lage, sich von der eigenen Täuschung – nachdem der Traum, wie es im dritten Teil heißt, »geplatzt« ist – Rechenschaft abzulegen und die Rolle, die der Idealismus in der Welt des Staatsmaterialismus spielt, zu analysieren. Diese Schwäche kann aber kein Grund für den hiesigen Wissenschaftsbetrieb sein, eine solche Wortmeldung als unseriös auszugrenzen und die Autoren zu exkommunizieren – leben doch dessen Expertisen durchaus davon, dass ideale Perspektiven der deutschen Politik entworfen werden.

Mit der Veröffentlichung kam eine ­Kampagne gegen die Hochschullehrerin, die vorher schon die staatliche Coronapolitik kritisiert hatte, richtig auf Touren, und zwar mit dem Tenor: Wissenschaftlich sei eine solche – angeblich – prorussische Position untragbar. Und plötzlich verdichteten sich Plagiatsvorwürfe. Sie erweisen sich als vorgeschobene Gründe, um störende Wortmeldungen in der Öffentlichkeit zum Schweigen zu bringen. Die Hochschullehrerinnen Heike Egner und Anke Uhlenwinkel, die ein Forschungsprojekt zu Maßregelungen im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb betreuen, sprechen von einem »Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit«.³ Zwar hätten einschlägige disziplinarische Maßnahmen in den letzten Jahren überhaupt zugenommen, aber was hier geschehe, sei ein »einmaliger Vorgang«.

Die Universität Bonn nahm die Vorwürfe gegen Guérot trotzdem zum Anlass einer Kündigung – und seitdem läuft ein Arbeitsgerichtsverfahren, dessen Ausgang offen ist. In dem Sammelband »Der Fall Ulrike Guérot« ist die Stellungnahme der Bonner Universität abgedruckt, die sich im Oktober 2022 noch ohne Namensnennung »von einem Mitglied der Philosophischen Fakultät« distanzierte und sich – für eine Hochschule eher ungewöhnlich – mit der NATO-Position identifizierte. Das Buch dokumentiert zudem eine Erklärung des Verlags, die ebenfalls die ungewöhnliche Koordination der öffentlichen Angriffe auf Guérot hervorhebt, was auch anhand einer Liste von über 50 Medienbeiträgen belegt wird. In der Hauptsache zeigen diese das Faktum einer abgestimmten öffentlichen Stimmungsmache gegen eine Person, die sich dem Mainstream entgegenstellt.

Eine Hexenjagd

Was hier vorliegt, ist ein Fall von Ausgrenzung politischer Positionen, der von einer erstaunlich selbstverständlichen Anpassungsleistung und Gleichschaltung im Wissenschafts- und Medienbetrieb zeugt. Der von der Herausgeberin des genannten Sammelbandes, Gabriele Gysi, erhobene Vorwurf der »versuchten Hinrichtung« greift dabei etwas hoch. Vertretbar ist er als Bild, das die Heftigkeit und Zielstrebigkeit der Kampagne aufspießt. Diese geht ja ganz zielgerichtet ad personam. Dazu gehört wohl auch die Tatsache, dass das Arbeitsgerichtsverfahren, das für die Bonner Universität mit einem peinlichen Ausgang enden oder zu einem eher neutralen Vergleich führen könnte, immer wieder verschoben wird – eine Zermürbungstaktik gegen eine unbequeme Person.

Wichtig ist hier aber vor allem, dass ein Exempel statuiert wird. Huisken schreibt dazu: »Die hierzulande durchgesetzte Parteilichkeit für den Ukraine-Krieg und die deutsche Beteiligung an ihm stellt längst keine bloße Meinung dar, sondern weiß sich bereits zur antikritischen Fahndung beauftragt«.⁴ Und dieses Signal sei im Wissenschaftsbetrieb angekommen. In der Tat, in der Hochschulgemeinde gibt es keine Aufregung über die Kündigung. Im Gegenteil, Versuche, das Buch von Gysi – das ja durchaus wissenschaftliche Expertise beibringt – bekannt zu machen, ­stoßen etwa in der Fachöffentlichkeit auf Bedenken. Da müssen die Zuständigen in den Redaktionen oder Beiräten der öffentlichen Verurteilung gar nicht zustimmen, es reicht das Wissen, dass es besser ist, dieses heiße Eisen nicht anzufassen.

Dabei betrifft dieser Fall ja gerade auch die Debatte über die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Bildungsarbeit, speziell etwa in der politischen Erwachsenenbildung. Das Ethos der außerschulischen, »staatsfreien« Bildung bestand bislang darin, mit dem politikdidaktischen »Kontroversitätsgebot« ernst zu machen. Das galt als Basisaufgabe einer Bildung, die sich der Aufklärung verpflichtet fühlt und (gemäß dem »Überwältigungsverbot«) gegen Indoktrination Stellung bezieht: Sie hat die jeweilige Lage samt ihren gängigen Deutungen nicht als gegeben hinzunehmen, sondern muss sie als analytische Herausforderung nehmen und damit ins Feld der Kontroversen überleiten, die ja gerade den Kern des Politischen ausmachen.

Die Sachbuchautorin und seit Jahrzehnten als Ostexpertin bekannte Journalistin Gabriele ­Krone-Schmalz versuchte daher, ihre abweichende Position zur Diskussion zu stellen, so etwa im Herbst 2022 mit einem Vortrag in der Reutlinger Volkshochschule über »Russland und die Ukraine«. Doch »bereits das Faktum selber, dass VHS-Verantwortliche die Frau zu Wort kommen ließen, wurde zum Skandal stilisiert, der angeblich die Fachwelt ›entsetzt‹«.⁵ Und genau das funktioniert als Exempel, das andere Veranstalter zur Kenntnis zu nehmen haben.

Nebenbei: Statt wie Gabriele Gysi von einer versuchten »Hinrichtung« wäre es vielleicht besser, um im Bild zu bleiben, von einer Hexenjagd zu sprechen. Der Beitrag in dem Sammelband Roberto De Lapuentes lässt erkennen, dass in diesem Fall auch Ressentiments gegen eine öffentlich präsente und selbstbewusst auftretende Frau mit im Spiel sind. So wie es aussieht, ist eine akademisch-pressemäßig gut vernetzte Männerclique dabei, eine unbequeme Autorin aus der Gemeinschaft der anständigen Deutschen auszuschließen.

Einer, der wohl eine führende Rolle bei der Kampagne spielt, ist der FAZ-Redakteur Patrick Bahners. Der lässt kaum eine Gelegenheit aus, Guérot ins Abseits zu stellen. In seinem neuesten Buch »Die Wiederkehr« über die AfD erwähnt er zum Beispiel Guérots Klage, dass derzeit »kritische Meinungen marginalisiert, diffamiert und stigmatisiert«⁶ würden. Das empfindet der FAZ-Mann, der in und mit seinem Blatt einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, welche Meinungen in Deutschland zählen, als eine hohle Phrase, die gut in Gustave Flauberts berühmtes Wörterbuch passen würde. Von Restriktionen sei nichts zu entdecken, »in einem Wörterbuch der Gemeinplätze des gegenwärtigen Weltmoments müsste die Idee der Gefährdung der Meinungsfreiheit durch die Herrschaft des Mainstreams einen Sonderplatz einnehmen«. Dissidenz im liberalsten Deutschland, das es je gab – da kann der Profi der veröffentlichten Meinung nur lachen!

Dissidenz und Feindbildpflege

Auffällig ist, dass es sich bei Krone-Schmalz oder Guérot nicht um Kritikerinnen handelt, die dem imperialistischen Erfolgsanspruch der deutschen Nation – sie will als Führungsmacht Europas ihren Beitrag dazu leisten, die Russische Föderation zu einer »Regionalmacht« (Barack Obama) zurückzustufen und deren militärisches Potential zu ruinieren – frontal entgegentreten. Sie berufen sich »nur« auf eine Option, die der ehemalige Frontstaat BRD ja auch kannte, nämlich im Rahmen von Entspannung und wirtschaftlicher Verflechtung den Kontrahenten entgegenzutreten. Aber das genügt schon, wo jetzt die Verantwortlichen beschlossen haben, dass der Übergang vom Einsatz ökonomischen Drucks zur militärischen Gewalt ansteht; wo sich also zeigt, dass es »in letzter Konsequenz genau darum ging« – was alle Politiker wussten, was aber jetzt erst vom Militärprofessor Sönke Neitzel als Betriebsgeheimnis des BRD-Imperialismus ausgeplaudert wird.

Mit scharfem Blick wird bei den Verfechtern der neuen deutschen Nationalmoral aber auch auf eine Front geachtet, an der derzeit noch der ökonomische Druck im Vordergrund steht. Die Rede ist von der Volksrepublik China, die schon als Systemrivalin ins Auge gefasst ist. Im Westen steht fest, dass diese Front als nächste zu bereinigen ist, wenn die Führungsfrage in Europa geklärt ist und Deutschland seine Rolle als Zentralmacht entsprechend wahrnimmt. Und in den USA streitet sich die politische Klasse darüber, ob man sich nicht in Osteuropa verzettelt und statt dessen möglichst frühzeitig den fernöstlichen Problemfall zu lösen hätte.

Alte Feindbilder

Beim fernöstlichen »Regime« ist die hiesige Öffentlichkeit in der bequemen Lage, dass sie bloß an dem seit Jahrzehnten feststehenden Feindbild des »totalitären Kommunismus« weiterzustricken braucht. Zwar hat die dortige Parteiführung einen florierenden Kapitalismus hinbekommen, der gerade wegen seines Wachstumspotentials zu den westlichen Sorgen vor einer Revision der bestehenden Weltordnung führt; zwar hat das Land eine Bekämpfung der absoluten Armut in Angriff genommen und weitgehend realisiert, wie sie den Entwicklungsländern seit Jahrzehnten versprochen, doch nie beschert wurde; zwar hat China im Patriotismus seiner Bevölkerung einen festen Rückhalt und feiert ihn als Ausweis seiner kulturellen Identität, die die Wertschätzung und Pflege der zahllosen Minderheiten einschließt – aber all das hilft nichts.

Im Westen ist mit sachkundigem Blick stets eins klar: All das beruht auf Unterdrückung. Man muss gar nicht genau hinsehen in diesem Einparteienstaat und etwa der Frage nachgehen, wie er auf seine Weise die Loyalität und Mitwirkung der Menschen organisiert. Wenn man aber hinsieht, braucht man schon eine fertige Einstellung zu dem inakzeptablen System, sonst fördert man unter Umständen Ergebnisse zutage, die – ähnlich wie die oben genannten Fälle von Dissidenz – öffentlich und wissenschaftlich nicht mehr tragbar sind, weil sie als Störung des nationalen Konsenses wirken. Das haben jetzt vier deutsche China-Wissenschaftler und ein Völkerrechtler erlebt, die sich auf eigene Initiative im Mai 2023 vor Ort mit einer der Todsünden des chinesischen Regimes befassten, nämlich mit der Unterdrückung der islamistischen Tendenzen in der uigurischen Region.⁷

Sie organisierten eine Forschungsreise und gingen der Frage nach, ob in Xinjiang nach der Einsetzung der neuen Führungsriege von Beijings Gnaden Ende 2021 die Lage gleich geblieben ist oder ob sich die Situation verändert hat. Erste Ergebnisse veröffentlichten sie Ende 2023 in der NZZ, wo es u. a. hieß: »Aufsehenerregende Berichte von streng geführten Internierungslagern, von Zwangsarbeit und von kultureller Unterdrückung der Uiguren prägen bis heute weltweit das Bild von der uigurischen autonomen Region Xinjiang in China. Dass diese Region zwischen 2010 und 2016 unter massivem islamistischem Terror litt, der nahezu zu einem Kontrollverlust seitens der Zentralregierung führte, ist hingegen weniger diskutiert worden. Beijing sah sich gezwungen, mit zweifellos überharten Maßnahmen zu reagieren, um dem Terror Einhalt zu gebieten und die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Auf dem Spiel stand die innere Sicherheit von ganz China. Nicht übersehen werden sollte zudem, dass die uigurische Bevölkerung selber unter dem Terror litt.«

Als ein Ergebnis ihres Besuchs hielten die Wissenschaftler fest, dass mittlerweile deutliche Anzeichen einer Rückkehr zur »Normalität« erkennbar seien. Auf Seiten der uigurischen Bevölkerung stießen die von der Zentralregierung in Gang gesetzten Modernisierungen bei Bildung, medizinischer Versorgung und Beschäftigung »unübersehbar auf Sympathie«. Es spreche auch einiges dafür, dass die während der Hochphase des Kampfs gegen den Terror entstandenen Lager inzwischen weitgehend aufgelöst worden seien. »Eine generelle Diskriminierung der uigurischen Sprache und Kultur konnte die Reisegruppe nicht feststellen«, resümierte das Forschungsteam.

Alles in allem ein Befund, der die Schwierigkeiten eines multiethnischen Staates zeigt, mit islamistisch-separatistischen Bewegungen oder Radikalisierungen umzugehen. Die Wissenschaftler erinnerten auch daran, dass Mitte der 1990er Jahre zwölf separatistisch-islamistische Bewegungen in der Region aktiv wurden, uigurische Kämpfer sich islamistischen Bewegungen im Ausland anschlossen oder zum Beispiel 2016 in einem Video des sogenannten Islamischen Staats ihren Plan darlegten, Han-Chinesen »in einem Meer von Blut (zu) ertränken«. Entsprechend begannen sie, so die Autoren, von Afghanistan und Pakistan aus im Süden Xinjiangs ­junge Uiguren als Kämpfer zu rekrutieren.

Wissenschaftlich untragbar

Also: ein »War on Terror«, der sich von westlicher Seite gut nachvollziehen lässt und wo man sich in puncto Deradikalisierungsprogramme eventuell eine Scheibe abschneiden könnte? Von wegen! Die Hochschullehrer bekamen nach ihrer Rückkehr gleich Probleme. Auch hier hieß es wie bei Guérot: wissenschaftlich untragbar. Die SZ (24.9.2023) beschwor sogar schon einen »Aufruhr in der deutschen China-Wissenschaft«. Nach dem »prochinesischen Gastbeitrag« der beiden prominenten Sinologen in der NZZ herrsche »Fassungslosigkeit«. Das ließ den Kommentator fragen: »Sind führende Vertreter des Fachs zu nah dran an Peking?«

Nah dran haben deutsche Wissenschaftler an der hiesigen patriotischen Leitlinie zu sein. Die BRD hat ja mittlerweile eine eigene Indo-Pazifik-Strategie, in der man sich dazu bekennt, bei der wachsenden Rivalität zwischen den USA und China nicht mehr einfach in der Zuschauerrolle zu verharren. Renate ­Dillmann hat die Auswirkungen der strategischen Neuorientierung seinerzeit in der jW (3.2.2020) unter die Lupe genommen. Ihr Fazit: »Medienkampagnen gegen China haben einen simplen Grund: die Volksrepublik ist zu einem ernsthaften Konkurrenten um Weltmarktanteile herangewachsen.« Klar, in einer solchen Lage kann man als deutscher Wissenschaftler nicht einfach sachlich über die Sache berichten. Wo bleibt da die Feindbildpflege?

Anmerkungen

1 Gegenstandpunkt 4/23: Die Konkurrenz der Kapitalisten (Kapitel V), Die letzte Wachstumsgarantie: Imperialistische Erfolge der Nation, S. 73

2 Freerk Huisken: Frieden – Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass, Hamburg 2023, S. 84

3 Gabriele Gysi (Hg.): Der Fall Ulrike Guérot – Versuche einer Hinrichtung, Frankfurt am Main 2023, S. 15, 18, 41

4 Huisken, a. a. O., S. 83

5 Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo: Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über »westliche Werte«, Hamburg 2023, S. 101 f.

6 Patrick Bahners: Die Wiederkehr. Die AfD und der neue deutsche Nationalismus, Stuttgart 2023, 222 f.

7 Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer: Jenseits von Hass und Zorn – nach der erfolgreichen Kampagne gegen Terrorismus und Islamismus sollen sich nach dem Willen Pekings die Verhältnisse in Xinjiang wieder normalisieren, NZZ, 11.9.2023

Johannes Schillo schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. Dezember 2023 über die ­Hermeneutik des Verdachts.

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