4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 13.03.2024, Seite 12 / Thema
Nahost

Terror als Methode

Im Krieg gegen Israel. Was die Hamas mit der »Al-Aqsa-Flut« bezweckt
Von Theo Wentzke
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Mit dem Selbstverständnis, die berechtigte und wirkmächtige Vertreterin aller Palästinenser zu sein: die Hamas (Anhänger bei einer Demonstration in Rafah gegen die Inhaftierung von Palästinensern in Israel, März 2005)

Am 7. Oktober 2023 unternehmen mehrere hundert bis über eintausend Bewaffnete der Hamas, von dem militärisch durch Israel land- und seeseitig bewachten Gazastreifen aus, einen Ausfall, und greifen im israelischen Umland des Streifens fast über die gesamte Länge der Grenze Siedlungen sowie Militär- und Polizeistellungen an – zu Land, über das Meer und mit Gleitschirmen auch aus der Luft. Sie töten Soldaten und Zivilisten – insgesamt fast anderthalbtausend; vereinzelt dauern die Gefechte auf israelischem Gebiet über 72 Stunden an. Im Zuge des Angriffs bringen sie etwa 250 Israelis, ebenfalls Soldaten und Zivilisten, lebend in ihre Gewalt und dann in den Gazastreifen zurück. Gleichzeitig beginnt die Hamas aus dem Innern des Gazastreifens, Israel mit Raketen zu beschießen. Von denen wird zwar die größte Zahl abgefangen, sie richten jedoch trotzdem Schäden an und veranlassen die israelische Regierung zur Evakuierung der von palästinensischem Raketenbeschuss am meisten bedrohten Gebiete.

Auf einen militärischen Sieg gegen Israel ist der Überfall nicht berechnet – mit ein paar Hundertschaften Bewaffneter und ein paar tausend Raketen ist ein Krieg gegen Israel, die stärkste Militärmacht der Region, nicht zu gewinnen; ein regulärer Krieg ist von einer Truppe wie der Hamas noch nicht einmal zu führen. Das und erst recht die Tatsache, mit welcher zielgerichteten Grausamkeit die Hamas-Leute über die Zivilisten herfielen, derer sie habhaft wurden, bestätigt allen, die es sowieso schon wissen, dass es sich bei dieser Truppe um Terroristen handelt. Um Terror handelt es sich bei der Gewalt der Hamas auch ohne jede Frage. Aus Interesse falsch ist es aber, dieses Urteil damit zu verknüpfen, die Gewalt ihres politischen Gehalts zu entkleiden. Die gewollte Fassungs- und Begriffslosigkeit, die mit schlichtem menschlichem Entsetzen nicht zu verwechseln ist, lässt keinen Platz dafür, den Zusammenhang zwischen dieser Gewaltaktion und dem Inhalt und Stand des politischen Programms zu ermitteln.

Autonomer Staatsanspruch

Letzteres ist überhaupt kein Geheimnis – die Hamas macht jedenfalls keines daraus. Sie will einen palästinensischen Staat, mindestens auf dem Gebiet der heutigen Palästinensergebiete und Jerusalems, programmatisch überhaupt in dem Land »zwischen Fluss und Meer«. Sie erkennt den Staat Israel nicht an; dafür, dass keine Koexistenz mit ihm möglich sei, gebe es für sie alle möglichen hohen und höchsten Gründe, einschlägig sind die Verweise darauf, dass Israel einen islamisch-arabischen Staat der Palästinenser niemals dulden werde – siehe den Umgang Israels mit den Palästinensern und ihren Versuchen, einen solchen zu gründen bzw. überhaupt die Voraussetzungen dafür aufrechtzuerhalten.

Im Rahmen der palästinensischen Autonomie gewinnt die Hamas zu Beginn des Jahres 2006 die Wahlen für alle Autonomiegebiete, was international und von ihren innerpalästinensischen Widersachern nicht anerkannt wird. Mit denen überwirft sie sich 2007 endgültig so weit, dass der geographischen seither eine politische Spaltung der Palästinensergebiete entspricht: Der Gazastreifen ist Hamas-Land, im Westjordanland regiert die von Israel irgendwie offiziell noch anerkannte Autonomiebehörde unter der Führung der kompromissbereiten Fatah-Fraktion.

Seither ist der Gazastreifen Basis für den weiteren Kampf der Hamas – denn den hat sie keinesfalls aufgegeben, nur weil sie sich in ihrem Heiligen Krieg für ein wirklich souveränes Palästina noch nicht einmal gegenüber allen ihren Landsleuten durchsetzen kann. Dabei hat sie damit zu tun, dass das Gebiet von Israel engmaschig abgeriegelt wird; regulärer Grenzverkehr ist nur über sehr wenige Übergänge, zwischendurch gar nicht möglich. Die Landverbindung nach Ägypten taugt für die Erhaltung, Erneuerung, womöglich die Erweiterung der materiellen Basis, die der Gazastreifen samt seinen Bewohnern für die Hamas darstellt, gemäß den politischen Konjunkturen in Ägypten und den von Kairo angestellten, allemal widersprüchlichen Kalkulationen mal mehr, mal weniger.

Aber insgesamt kommt mit den immer spärlicheren Überweisungen von Gazapalästinensern, die in Israel oder woanders arbeiten, den Mitteln der supra- und internationalen Armutsbetreuung und der massiven materiellen Unterstützung Irans so viel zusammen, dass es überhaupt ein Zivilleben im Gazastreifen gibt, über das die Hamas mit ihren militärischen Mitteln und zivilen In­stitutionen herrschen und das sie zur Basis ihres Programms machen kann, eine wirklich souveräne palästinensische Staatsgewalt gegen Israel zu erringen. Die Praxis dieses Programms besteht zunächst in der immer schwierigeren Behauptung der Hoheit über den Gazastreifen, dessen Bewohner ihr ganzes, in aller Regel vollkommen ärmliches Dortsein mit der Loyalität zum Hamas-Kommando über ihr Leben gleichzusetzen haben.

Dafür liefert ihnen und sich die Hamas neben der alltäglichen Administration des Gazastreifens regelmäßig per Gewaltaktionen eine höhere Begründung eigener Art: Pur durch das Stattfinden von antiisraelischen Gewaltaktionen praktiziert, demonstriert und beglaubigt die Hamas ihren Anspruch, mehr zu sein als die Inhaberin des zivilen Kommandos über Gaza und die Organisatorin der für dessen Bewohner unabdingbaren Lebensnotwendigkeiten. Sich selbst und ihrer aktiven Basis schuldet sie den Beweis, dass ihr autonomer Staatsanspruch gilt und sie an ihm festhält. Und gerade weil seine Verwirklichung so komplett außer Reichweite ist, bleibt der Beweis eine dauernde Notwendigkeit. Von allen anderen Palästinensern unter ihrem Kommando verlangt sie wie jede gute, volksfreundliche Anführerschaft nicht nur Aus- und Durchhalten, sondern patriotische Zustimmung dafür. Denen führt sie auf diese Weise vor, dass sie nicht bloß eingesperrt sind in dem, was manche in polemischer Absicht ein Freiluftgefängnis nennen, sondern an etwas größerem teilhaben: an einem Projekt namens »Widerstand« in ihrem Namen. Wenn dann zu den Opfern, die das Leben dort sowieso verlangt, regelmäßig noch solche kommen, die die israelischen Schläge auf das Gazaterritorium produzieren, dann sprechen diese Opfer gemäß derselben Logik für die Höhe und Güte der Sache, für die sie von Gazabewohnern erbracht und von der Hamas verlangt werden; die Toten bezeugen das gerade durch ihren Tod – denn der bedeutet, dass ihre, »die palästinensische Sache«, lebt.

Botschaft an Israel

Die politische Bedeutung der terroristischen Gewalt der Hamas gegen den israelischen Feind enthält zugleich ein paar entscheidende, an ihn adressierte Botschaften, auf die es bei Terror – anders als bei einem regulären Krieg – vor allem ankommt. Die erste Botschaft, vor der der israelische Gegner dem Wortsinn von Terror entsprechend erschrecken soll, ist dieselbe wie die, die damit von der Hamas an die eigenen Reihen und die restliche Gazabevölkerung ergeht: Die überlegene praktische Abwehr jedes palästinensischen Staatsanspruchs durch Israel, erst recht die israelische Verweigerung jeder Form von politischer Anerkennung der Hamas als den auch nur potentiellen Repräsentanten dieses Anspruchs, beantwortet die Hamas mit der gewaltsamen Klarstellung, dass Israel den Anspruch auf eine autonome palästinensische Staatlichkeit zwar unterdrücken, aber nicht beseitigen kann und sich statt dessen eine bewaffnete Feindschaft einhandelt, die ihm nicht gleichgültig sein kann. Zu diesem Beweiszweck gehört daher – das war bei allen vorherigen Aktionen der Hamas so, und das wird nun im Zusammenhang mit dem Überfall vom 7. Oktober bis zum Abwinken wiederholt –, dass die Hamas mit ihrer Propaganda sehr viel Wert darauf legt, dass Kämpfer, Waffen und vor allem die politisch-strategische und militärisch-taktische Entscheidungshoheit echt palästinensisch sind: »Die im Gazastreifen belagerten Leute haben es vermocht, mit ihren eigenen Händen Waffen zu produzieren, um sich der Besatzung entgegenzustellen« (Chalid Maschaal, einer der Auslandsführer der Hamas). Das ist die echt autonome Gewalt, die sie beansprucht, in Aktion.

Auch die Tatsache, dass sich ihre Gewalt am 7. Oktober in neuer Größenordnung gegen israelische Zivilisten richtet, ist weder mit Verzweiflung noch mit Ohnmacht zu erklären, wie verständnisvolle Kommentatoren es manchmal tun. Die Hamas bestreitet an den Menschen der israelischen Staatsgewalt deren Hoheit über sie, indem sie anderthalbtausendmal das staatliche Schutzversprechen für die Leute praktisch blamiert. Denn dessen wirklicher Gehalt ist der herrschaftliche Besitzanspruch auf diese Leute: Wenn sich der Staat Israel damit beauftragt und sich zugutehält, sein Volk gegen jeden feindseligen An- und Übergriff zu schützen, dann geht es um die Verteidigung dieses herrschaftlichen Besitz- und Zugriffsanspruchs. Das gehört sich für jede richtige Staatsgewalt – die Staatstheoretikerin Annalena Baerbock fasst es so: »Israel hat nicht nur das Recht, sondern wie jeder Staat die Pflicht, seine Bürger zu schützen.« Zum Rechtsbewusstsein, mit dem die israelische Staatsgewalt ihre Herrschaft über die Leute mit deren Leben gleichsetzt, gehört ganz prominent der Verweis auf die Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in Europa, die in dem Vernichtungswillen der deutschen Faschisten gipfelte, den sie in aller bürokratischen Akribie zu einem staatlichen Endlösungsprogramm ausgearbeitet haben. Gründungszweck Israels war der Wille, den Juden eine staatliche Heimstatt zu verschaffen, die sie zu einem regulären, wehrhaften, nötigenfalls kriegsfähigen Staatsvolk macht.

Den zeitgenössischen Bezugspunkt der gewaltsam durchgesetzten Gleichsetzung von jüdischem Leben mit einer Staatsgewalt, die Juden zur Basis und zum Mittel ihrer Machtentfaltung macht, bilden die Anfeindungen, denen Israel im Rahmen der Etablierung, Verteidigung und Ausweitung seiner staatlichen Existenz auf dem Boden des von den Zionisten einst auserkorenen Landes ausgesetzt ist. Das wird zum Teil von anderen Staaten beansprucht, teils von Aktivisten eines noch gar nicht existenten palästinensisch-arabischen Staates reklamiert und auf jeden Fall von Leuten bewohnt, die Israel seinerseits gar nicht als eigene Bürger haben will. Der grundsätzliche Gegensatz, in dem der israelische Staat damit zu seiner staatlichen Nachbarschaft und zu den von ihm ausgegrenzten palästinensischen Menschen steht, setzt seine Bürger permanent der Gefahr aus, vor der er sie permanent schützen muss und will.

Die seitens Israels inzwischen praktisch hergestellte und gewaltsam behauptete Gleichung zwischen israelischer Staatsexistenz, Schutz der Juden und Unverträglichkeit mit einem palästinensischen Staatswesen westlich des Jordans, greift die Hamas auf, und wendet sie gegen Israel: Sie beweist ihren Staatsanspruch im terroristischen Widerstand gegen den israelischen Staat; dem bestreitet sie die Souveränität dadurch, dass sie demonstriert, nämlich praktisch dafür sorgt, dass er seine schutzbefohlenen Bürger nicht auf Dauer und im Prinzip gar nicht gegen den zutiefst berechtigten und noch dazu göttlich beglaubigten Widerstand zu schützen vermag. Den umfassenden Überraschungsangriff, alle Opfer und Schäden, die der in kurzer Zeit an israelischem Leben und Material angerichtet hat, feiert die Hamas daher mit den üblichen Übertreibungen als Beweis der Verwundbarkeit des weitaus überlegenen Gegners: »Der Verkauf der Illusion einer unbesiegbaren Armee und der überlegenen Geheimdienste ist vorbei« (Abu Ubaida, Sprecher der Qassam-Brigaden). Und in ihrer negativen Version der israelischen Gleichung von totaler Überlegenheit und Bestand Israels heißt das für sie: »Die Besatzung hat nun wirklich begonnen zu verschwinden« (Ismail Hanija, Hamas-Chef). Dass sie auch diesmal wieder auf ihre Gewalt eine israelische Gegengewalt erntet, die alles überschreitet, was die Hamas aufzubringen vermag, überrascht sie offensichtlich nicht nur nicht. Sie sieht darin vor allem keine praktische Widerlegung ihrer größenwahnsinnigen Umdrehungen der souveränen Gleichungen, die Israel für sich aufgestellt und die die Hamas mit ihrer Gewalt punktuell beschädigt hat.

Zum Widerstand ermuntern

Freilich ist – und macht die Hamas – von Anfang an klar, dass die genannten praktischen und begleitenden propagandistischen Klarstellungs- und Beweisanliegen nicht nur selbstbezüglich, an die eigene Kämpferschar, an die zivile Basis im Gazastreifen und an Israel adressiert sind, sondern einen weitergehenden Kreis von Empfängern haben. Erstens sollen die gelungene Überrumpelung der israelischen Abschnürungs- und Überwachungssysteme um den Gazastreifen herum und der nachfolgende Luft- und Bodenkrieg die aktiven und auch die nicht so aktiven Palästinenser außerhalb des Gazastreifens aufrühren, sie zum Festhalten an ihrem bisherigen Widerstand bzw. zu neuem Widerstandswillen ermuntern und ihnen zugleich klarmachen, wer der berufene und einzige Vertreter ihrer, also der gesamtpalästinensischen Sache ist.

Dafür spielt neben allem anderen insbesondere die Forderung der Hamas nach Entlassung einer großen Anzahl von palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen eine zentrale, für die palästinensische Community in allen besetzten Gebieten und in Israel überragende Rolle. Dass sie zwischenzeitlich ein »Alle-gegen-alle«-Geschäft vorschlägt – Freilassung aller von ihr gefangen Gehaltenen gegen Freilassung aller palästinensischen Häftlinge –, beweist, dass sie nicht nur der selbst ernannte und in Wirklichkeit bloß terroristische, sondern der berechtigte, weil wirkmächtige Vertreter aller Palästinenser gegenüber der sie unterdrückenden, einsperrenden, ausgrenzenden Macht Israel ist. Ausdrücklich getrennt davon, ob die Einsitzenden Anhänger der Hamas oder anderer, auch verfeindeter palästinensischer Politfraktionen sind, schreibt sie sich eine quasistaatliche Schutzaufgabe zu, deren Wahrnehmung sie zur Inanspruchnahme der Loyalität aller Palästinenser berechtigt. Auch in diesem Fall ist es die Hamas ihrem Standpunkt schuldig und gelingt es ihr, die Tatsache, dass ihr Kampf praktisch mit der Bewältigung der Konsequenzen ihrer Bekämpfung durch Israel zu tun hat, wie defensiv er also der Sache nach ist, als Beleg und Bestandteil ihres optimistischen Rechtsbewusstseins zu deuten.

Zweiter Adressat ist die libanesische Hisbollah. Die kämpft unter etwas anderen politischen Vorzeichen und mit etwas anderen politischen Perspektiven auch gegen Israel, steht im Libanon und vom Libanon aus ebenfalls dafür, dass etwas anderes als bewaffnete arabisch-islamische Feindschaft gegen Israel keine Option ist, definiert sich daher zusammen mit der Hamas, anderen palästinensischen Organisationen, Iran, Syrien und ein paar anderen, als Bestandteil der »Achse des Widerstands«. Praktisch setzt die Hamas auf Hisbollahs Eingreifen, dem in den Kategorien regulärer Kriegführung kalkuliert die Rolle eines Entlastungsangriffs zukommen würde. Den braucht sie, um die Zeitdauer zu verlängern, in der sie es überhaupt vermag, dem übermächtigen israelischen Gegner etwas entgegenzusetzen. Wirklich in der Hand hat die Hamas aber nicht, ob überhaupt und wie sich die Hisbollah zur Eröffnung einer solidarischen Nordfront bereitfindet.

Zwar kann sie sich auf der Ebene der brüderlichen Propaganda aller warmen Glück- und Segenswünsche ihrer Kampf- und Glaubensgenossen sicher sein, und auch auf der militärischen Ebene testet die Hisbollah Israels Bereitschaft zum einstweiligen Frieden an der Nordfront zwecks zügiger Bereinigung des Gaza-Hamas-Problems mit vermehrten Scharmützeln aus; aber zum großen ultimativen Krieg gegen Israel sieht die Hisbollah ganz offensichtlich doch Alternativen. Sie steht ja mit ihrem von ihr mitregierten Libanon als Basis und Hinterland für ihre militärischen Potenzen und Optionen tatsächlich etwas anders da, als die Hamas mit ihrer fundamentalistischen Gleichung von terroristischem Überlebenskampf und Staatsgründungswillen. Dass sich dann auch die 2.000 Kilometer südlich um ihren jemenitischen »failed state« kämpfenden »Huthis« per Drohnen und ballistischen Raketen einmischen, erfüllt im wesentlichen ebenfalls die Funktion der moralischen Beglaubigung des Kampfes, den die Hamas in eine ultimative Phase überführt hat, deren Ausgang sie nicht selbst bestimmt.

Drittens richtet sich die gewaltsam praktizierte Botschaft der Hamas an die arabischen und islamischen Völker, deren Solidarität unterstellt und beansprucht wird. Per Dankesadressen an die prompt einsetzenden propalästinensischen Kundgebungen von Marokko über Jemen und Iran bis nach Malaysia werden islamisch bzw. arabisch-nationalistisch inspirierte Volksmassen dazu ermuntert, auf die Straße zu gehen und ihren Volkswillen pro Palästina kontra Israel deutlich zu machen. Wem? Vor allem ihren Regierungen, Königen, Emiren, vor allem dort, wo diese in Verfolgung ihrer politischen Kalkulationen sich mehr und mehr auf einen Kurs der Verständigung, der Aussöhnung mit Israel begeben haben und keinen Nutzen mehr darin sehen, sich zu Paten einer »gerechten Lösung« für die Palästinenser zu machen. Die sollen nun, wenn schon nicht aus Einsicht, dann wenigstens aus der opportunistischen Kalkulation mit dem heimischen Volkszorn zu einem Kurswechsel bewegt werden.

Für diesen Kurswechsel gibt ihnen die Hamas – viertens – noch eine ausdrückliche Botschaft mit auf den Weg. Zum Beispiel in dieser Form: »Wir sagen allen Staaten, darunter auch den arabischen Brüdern, dass dieses Gebilde, das nicht in der Lage ist, sich vor diesen Widerstandskämpfern zu schützen, euch keinen Schutz gewähren kann. (…) All die Normalisierungsverträge, die ihr unterzeichnet habt, werden es nicht schaffen, unseren Kampf zu beenden« (Ismail Hanija, Rede vom 7.10.23).

Auch dafür lohnen sich in den Augen der Hamas-Führer offensichtlich die Opfer, die sie ihre lieben Landsleute in dem israelischen Krieg gegen sie erbringen lassen: Ihrer deutlichen Unterlegenheit gegenüber Israel eingedenk, setzen die Strategen der Hamas darauf, dass ihre Gewalt immerhin dazu ausreicht, Israels totalen staatlichen Überlegenheitsanspruch so weit zu blamieren, dass die Führer der anderen staatlichen Gewalten in der Region neu kalkulieren, zu wie viel von der israelischen Militärmacht erzwungenem Arrangement sie weiterhin bereit sein wollen, wie viel Anerkennung sie Israels Souveränität und regionalem Hegemonialanspruch zollen wollen, weil sie meinen, damit ihre eigenen Machtambitionen besser voranbringen zu können als durch eine unzivile Feindschaft.

Moralisch können Hamas und Anhänger den kalkulierenden Umgang der arabischen Staaten mit Israel als Verrat beschimpfen, was sie ja auch pausenlos tun. Zugleich sind die palästinensischen Staatsgründer so realistisch, dass sie sich in ebendiese Kalkulationen neu einbringen wollen. Und zwar vor allem mit Blick darauf, dass die als »Bruderstaaten« adressierten Mächte neben ihrem Verhältnis zu Israel noch lauter andere Rivalitäten und Feindschaften pflegen, für die ihnen die Rückversicherung bei, womöglich eine Allianz mit dem regional größten staatlichen Zerstörungsapparat nützlich erscheint. Dass sich das vor allem auf die Staaten bezieht, die ihre strategische Rivalität mit der iranischen Republik dadurch vorantreiben wollen, dass sie sich durch zivile Beziehungen mit Israel stärken, ist dabei ebenso wenig ein Geheimnis wie die Tatsache, dass die Hamas einen wesentlichen Teil ihrer nun offen ausgespielten militärischen Potenz ihrem Bündnis mit der schiitischen Macht verdankt. In diesem Sinne und für diesen Zweck bringt sie ihren Status als Verbündete Irans in Anschlag, um dessen arabische Rivalen zu einer Neugewichtung ihrer widersprüchlichen Kalkulationen mit den beiden regionalen Hauptfeindmächten Israel und Iran zu bewegen, und sie so zu beeinflussen, dass auch die eigenen Staatsgründungsambitionen beim gewaltträchtigen bzw. gewaltsamen Gerangel um regionale Wichtigkeit und Hegemonie wieder eine Rolle spielen.

Dass die damit nicht unter sich sind, weiß die Hamas fünftens freilich auch, und auch das hat sie auf der Rechnung. Ihr Verbündeter Hassan Nasrallah von der libanesischen Hisbollah verkündet es so: »Nicht in der UNO, nicht im UN-Sicherheitsrat, nicht in der Organisation der Islamischen Zusammenarbeit, nicht in der Arabischen Liga, nicht in der Europäischen Union, nicht in all den bekannten internationalen Machtblöcken war die palästinensische Sache ein Thema, diese Sache und alles, was mit ihr zusammenhängt, war auf den letzten Posten der Tagesordnung degradiert, wenn es überhaupt noch vorhanden war – und im Gegenzug wurde die Politik des Feindes immer unverschämter, arroganter, unterdrückerischer, verkommener, ungerechter, demütigender. Es brauchte also ein großes Ereignis, das dieses räuberische Gebilde erschüttert, das die arroganten Unterstützer erschüttert, insbesondere in Washington und London, und das all die ad acta gelegten, menschlich berechtigten Anliegen neu zum Thema macht und die Sache des besetzten Palästina und seines unterdrückten Volkes und seiner bedrohten heiligen Stätten zur wichtigsten Angelegenheit der Weltpolitik macht« (Nasrallah-Rede vom 3.11.23).

Lohnende Opfer

Das ist ein paar tausend tote Israelis und ein paar zehntausend tote Palästinenser unbedingt wert: die von der Hamas national-religiös definierte »Sache der Palästinenser« zurück auf die Tagesordnung der Mächte zu bringen, die für all die anderen Punkte auf ihrer umfangreichen »Tagesordnung«, von den Unterpunkten ihrer zivilen Konkurrenz und bis hin zu ihren bewaffneten Gegensätzen, es für nicht mehr förderlich gehalten haben, einander mit der leidigen »Palästinenserfrage« zu kommen. Mit der nachhaltigen Erschütterung des in einen hypertrophen staatlichen Unverwundbarkeitsanspruch überführten Schutzversprechens des Staates Israel für seine jüdischen Bürger und mit der Aufrechterhaltung einer inzwischen wochenlangen Kampf- und Kriegslage will die Hamas genau das ekelhafte Interesse an Gewalt und fremden Gewaltfragen wecken und auf sich ziehen. Und das ist bei allen politischen Gewaltsubjekten dieser Welt erstens überhaupt vorhanden, zweitens um so dringlicher, je größer die Gewaltaffäre ist, auf die es sich richtet, und je größer die Macht ist, die sie selbst haben, also der Status, den sie sich in Form der Zuständigkeit für jedes veritable Gemetzel zuschreiben.

Diese feinen Subjekte und ihre ehrenwerten außenpolitischen Vielflieger, die in allem amtsgemäßen Zynismus mit dem Elend eines Staatsvolkes ohne Staat, zu dem die Palästinenser durch die ansässigen Staatsgewalten und deren auswärtige Unterstützer verdammt sind, in letzter Zeit sehr gut leben konnten, sollen nun auf die einzige Weise, durch die einzige Sprache, die sie verstehen, beeindruckt und dahin gebracht werden, von ihrem Standpunkt aus, von dem aus der ganze Globus Sphäre, Gegenstand und Mittel ihrer Interessenverfolgung und Machtprojektion ist, jetzt auch wieder an Palästina nicht vorbeisehen zu können.

Dazu trägt die Hamas das ihre bei – soweit eben ihre Waffen, ihre darauf beruhende Kriegführung und ihre mutige Entschlossenheit zum Hinmetzeln und Hinmetzelnlassen reichen. Den anderen, viel größeren Part dafür, dass diese Berechnung aufgeht, soll auch in den Kalkulationen der Hamas Israel selbst übernehmen: Dessen Antwort, die schiere Dimension eines wirklichen von der regionalen Supermacht geführten Krieges braucht es schon, damit nicht nur irgendwie »die Weltöffentlichkeit«, sondern die Gemeinde der Weltmächte es spannend bis unumgänglich findet, sich der Sache anzunehmen.

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle am 18. Oktober 2023 über das israelische Besatzungsregime in der Westbank.

Mehr zu Thema Krieg in Nahost auf der Website der Zeitschrift Gegenstandpunkt: https://de.gegenstandpunkt.com

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (14. März 2024 um 14:18 Uhr)
    Da die UNO nicht in der Lage war, feierlich abgeschlossene Verträge wirklich auch zu garantieren, weder »Oslo« noch die Friedensverträge Israels mit Ägypten und Jordanien (übrigens auch nicht »Minsk 2«, das nur am Rande), liegt bei dieser, wie das Nasrallah gesagt hat, ein großer Teil der Schuld dafür, dass Israel »immer unverschämter, arroganter, unterdrückerischer, verkommener, ungerechter, demütigender« geworden ist und Befreiungsbewegungen wie die Hamas massiv die Waffe des Terrors einsetzen. (In ganz ähnlicher Weise wurde Russland zum Eingreifen in der Ostukraine genötigt.)
    Das muss nicht so bleiben. Könnten sich nämlich der Westen und die BRICS-Staaten zu einer gemeinsamen Aktion gegen das Verhungern in Gaza einigen, wäre Israel am selben Tag am Ende mit seiner Expansionspolitik. Aber dazu fehlt noch viel »Aufstand des Gewissens« in der westlichen Welt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (13. März 2024 um 14:08 Uhr)
    Thomas Wentzke hat deutliche Schwierigkeiten, die Welt zu verstehen. Er ist damit nicht allein auf der Welt, das entschuldigt ihn ein wenig. Dass er die Gewalt der Unterdrückten nicht von der Gewalt der Unterdrücker zu unterscheiden vermag – geschenkt. Gewalt ist ihm Gewalt und deshalb wortgewaltig verurteilenswert. Wahrscheinlich sagen ihm auch Begriffe wie Befreiungskrieg oder Freiheitskampf wenig bis gar nichts. Ein Schwacher, der sich wehrt, gilt ihm grundsätzlich als Terrorist, wenn er dabei Gewalt ausübt. Viel empathieloser kann man über Leben, Leiden und Sterben Unterdrückter nicht schreiben. Warum aber die jW, die sonst immer solidarisch mit den Schwachen ist (und diese Solidarität auch für sich selbst einfordert), so etwas druckt, ist für mich nicht nachvollziehbar.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in josef w. (13. März 2024 um 12:03 Uhr)
    (…) Theo Wentzke entgeht offenbar der Charakter des israelischen Staates als Produkt eines Siedlerkolonialismus imperialen Ursprungs und dessen apartheidpolitischer Charakter. Israel ist für Wentzke ein Staat, der mit seinen Bewohnern nichts anzufangen weiß – wie flach und gegenstandslos. Seine Plattitüde, die Hamas sind Terroristen und alle anderen politischen Kräfte dieser Welt moralisch verwerflich. Nach dieser Fundamentalkritik an allem und jedem kann er es sich in seinem pseudoradikalem Elfenbeinturm gemütlich machen und sich als »linker« Säulenheiliger feiern lassen. (…)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ronald B. aus Kassel (13. März 2024 um 11:54 Uhr)
    Im – interessengeleiteten – Artikel spricht der Autor von »insgesamt fast eineinhalbtausend« am 7. Oktober 2023 von palästinensischen Widerstandskämpfern getöteten israelischen Zivilisten und Soldaten, später von »eineinhalbtausend« ohne das einschränkende »fast« davor. Selbst die proisraelische Seite gab die Zahl der am 7. Oktober 2023 durch Palästinenser Getöteten mit 1.400 an, interessensgeleitet; seriösere Quellen benannten die Opferzahl mit 1.200. Anders als die nachfolgenden Zehntausenden Völkermordopfer auf palästinensischer Seite aber waren die israelischen Opfer des 7. Oktober 2023 durchaus zählbar!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinz-Joachim R. aus Berlin (13. März 2024 um 00:58 Uhr)
    Tut mir leid, Herr Wentzke, Ihre Philosophie entbehrt der global-imperialistischen Klassenlogik. Israel ist Statthalter der USA und kann sich als Staatsterrorist auf das unermesslich hohe, vor allem millionenfache physische Opfer, das den Juden durch den Faschismus angetan worden war, nicht berufen. Dies begann bereits mit dem ersten israelisch-arabischen Krieg 1948/49, wo Hunderttausende Araber vertrieben wurden und eine Okkupation von 6700 Quadratkilometern stattfand. Der Zionismus der israelischen Großbourgeoisie bezeugt in seiner Demagogie und in der exzessiven Praxis gegenüber den Palästinensern einen kolonial suizidalen Machtwahn, der früher oder später zur Eskalation führen musste, wodurch auch jetzt eine Demaskierung der USA und der EU mit Deutschland, die Nahostregion in Wahrheit am Kochen zu halten, erfolgt. Das alte divide et impera der Ausbeutergesellschaften hat irgendwann auch immer einen Bumerangeffekt der Gewalt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Helga M. aus Helga M., Brühl (12. März 2024 um 21:37 Uhr)
    Ich weiß nicht, was die junge Welt veranlasst hat, einen solch voreingenommenen, polemischen Artikel zu übernehmen. Die »Tatsache, mit welcher zielgerichteten Grausamkeit die Hamas-Leute über die Zivilisten herfielen, derer sie habhaft wurden, bestätigt allen, die es sowieso schon wissen, dass es sich bei dieser Truppe um Terroristen handelt. Um Terror handelt es sich bei der Gewalt der Hamas auch ohne jede Frage.« Eigentlich war ich da schon eingestimmt auf den Tenor des Beitrags, habe mir aber dennoch die Mühe gemacht, ihn bis zum Ende durchzulesen. Die Ausgangsthese wird auf zwei Seiten abgehandelt, da wird nichts belegt, da werden keine Widersprüche, Differenzen aufgezeigt, nichts. Wir folgen dem Narrativ des Autors, wonach die Hamas Terroristen sind und nichts sonst, Punkt! Wer täglich die sogenannte Qualitätspresse liest, für den nichts Neues. Die Schlussfolgerung: Irgendwie sind die Palästinenser ja selbst Schuld an ihrem Schicksal. Wer sich mit der Hamas einlässt, muss halt die Folgen tragen. Hätte man doch wissen können, was das für böse Buben sind, der Autor weiß es doch auch. Und wer hierzulande auf das Narrativ vom Freiheitskampf hereinfällt, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. Es gibt viele palästinensische Autoren und jüdische Intellektuelle, die sich mit dem Thema Hamas fundiert und objektiv auseinandersetzen, so z. B. As`ad AbuKhalil mit einem sehr interessanten Artikel, veröffentlicht auf der Homepage von Evelyn Hecht-Galinsky. (…)

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