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Aus: Ausgabe vom 12.03.2024, Seite 2 / Ausland
Lateinamerika

»Dieses Modell ist bisher immer gescheitert«

Friedensverhandlungen in Kolumbien: Staat und Guerillagruppe EMC versuchen die Einigung. Ein Gespräch mit Víctor de Currea-Lugo
Interview: Sara Meyer
COLOMBIA-PEACE.JPG
Friedensdialoge in Kolumbien (Tibu, 8.10.2023)

Vergangene Woche wurde die vierte Verhandlungsrunde zwischen der FARC-Abspaltung Estado Mayor Central, EMC, und dem kolumbianischen Staat eingeläutet. Was kann in den kommenden Wochen von den Delegationen erwartet werden?

Zuerst muss eine Strategie erörtert werden. Im Moment ist nicht klar, welche Ziele die Regierung in bezug auf die FARC-Dissidenten verfolgt. Sollte der Staat nur das Niederlegen der Waffen und die Wiedereingliederung der Guerilleros in die Gesellschaft anstreben, wäre das kein gutes Zeichen für einen nachhaltigen Frieden, da dies lediglich bedeuten würde: Gebt eure Waffen ab und geht ins Gefängnis. Das ist keine Grundlage für Verhandlungen. Dieses Modell kennen wir in Kolumbien sehr gut aus der Vergangenheit, und es ist bisher immer gescheitert. Ein weiterer Missgriff ist es, die Guerilleros als »Terroristen« zu behandeln und deshalb alles mit Strafgesetzen, ohne politische Agenda, angehen zu wollen.

Denken Sie, dass ein nachhaltiger Frieden in Kolumbien erreicht werden kann, wenn die Regierung ihre bisherige Strategie weiterverfolgt?

Wir in Kolumbien leben in einer Welt von Gesetzen, internationalen Abkommen und Initiativen wie dem »Paz total« (vollkommener Frieden, jW), aber wir sehen die Realität. Das beste Beispiel ist der Friedensvertrag mit der ehemaligen FARC-Guerilla von 2016: Es wurde zwar ein Dokument mit über 300 Seiten unterzeichnet, doch bisher ist davon wenig bis nichts umgesetzt. Was nützt uns ein Papier, wenn es nicht angewendet wird?

Neben dem EMC verhandelt die Regierung mit der Guerilla Ejército de Liberación Nacional, ELN. Im Rahmen dieser Verhandlungen wird die Zivilbevölkerung, insbesondere die historisch vernachlässigten Gruppen, einbezogen. Denken Sie nicht, dass das einen nachhaltigen Frieden gewährleisten könnte?

Das hängt davon ab, wie die Sache angegangen wird. Die ELN schlägt viel Interessantes vor, unter anderem, die Gesellschaft partizipieren zu lassen. Aber es gab noch keinen Friedensprozess auf der Welt, in dem die Zivilgesellschaft wirklich am Verhandlungstisch vertreten war, sie hatte immer nur eine begleitende Rolle wie in Guatemala, Irland oder auf den Philippinen. In Kolumbien gibt es zwar ein sogenanntes Beteiligungskomitee, an das 80 Organisationen ihre Standpunkte herantragen, dabei geht es aber nur um das methodische Vorgehen, also wie man künftig über den Frieden reden will. Inhaltlich trägt die Zivilgesellschaft nichts in die Verhandlungen. Vor sechs Monaten hat das Komitee seine Arbeit aufgenommen und bisher wurde noch nichts Konkretes entschieden. So werden in der Bevölkerung Erwartungen geschürt, die nicht erfüllt werden.

Was wäre eine bessere Vorgehensweise?

Ich würde vorgeschlagen, drei Anwälte der Guerilla und drei Anwälte der Regierung zu beauftragen, eine nachhaltige Lösung zu finden. So wurde damals auch die Sonderjustiz für den Frieden (juristischer Teil des »Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung«, jW) ins Leben gerufen und das hat funktioniert.

Was ist aktuell die größte Herausforderung für die Friedensgespräche mit den verbleibenden Guerillagruppen?

Erstens, die Kommunikation zwischen dem Staat und der jeweiligen Gruppe. Die Guerillas haben ihre eigene Sprache, und solange der Staat diese nicht versteht, wird es schwierig bleiben, sich zu einigen. Zweitens wird dasselbe Verhandlungsmodell wie bei den FARC angewendet, und das ging damals schon schief. Drittens, wird ein Bild von der ELN vermittelt, das nicht der Realität entspricht, zum Beispiel, dass sie keine einheitliche Kommandostruktur hätte, was schlicht falsch ist. Und letztendlich wird immer gesagt, dass es sich bei den Guerillas um »Verbrecher« und »Terroristen« handelt. Darum sollte es nicht gehen, sondern man sollte sich auf die Lösung des politischen Konflikts konzentrieren. Ich sehe eine Unfähigkeit, eine handfeste Strategie zu entwickeln, und fehlenden Pragmatismus. Es wird zwar viel geredet, aber nichts getan.

Víctor de Currea-Lugo schreibt Bücher über die ELN und war Berater beim Friedensprozess

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