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Aus: Ausgabe vom 11.03.2024, Seite 7 / Ausland
Irland

Schlappe für Regierung

Irland: Verfassungsänderung zur Definition von Familie und Geschlechterrollen abgelehnt
Von Dieter Reinisch
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Fruchteten nicht: Aufrufe an die Wahlberechtigten, mit Ja zu stimmen (Dublin, 3.3.2024)

Völlig überraschend haben zwei Drittel der Iren am Freitag gegen eine Überarbeitung der konservativen Verfassung gestimmt. Die Regierung hatte am Internationalen Frauentag zwei Referenden angesetzt, die zwei rückständige Artikel der Verfassung von 1937 aufheben sollten. Es ging um die Definition von Familie und die Rolle der Frau. Fast alle Parlamentsparteien hatten zu einem Ja aufgerufen. Nur die kleine rechtskonservative Abspaltung der republikanischen Sinn Féin (SF), die Partei Aontú, die einen einzigen Sitz im irischen Parlament Daíl hat, war gegen die Verfassungsänderung. Dennoch stimmte am Freitag eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung mit Nein.

Nach den erfolgreichen Referenden zur gleichgeschlechtlichen Ehe 2015 und der Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen 2018, haben Irlands Frauen nun einen herben Rückschlag erlebt. Aufgrund verfehlter und zaghafter Kampagnenplanung der Regierung scheint ihre Rolle im Haus, als Teil einer bürgerlichen Ehe zwischen Mann und Frau, auf Jahre zementiert worden zu sein.

Durch die Referenden sollten besonders konservative Paragraphen der Verfassung entkräftet werden. Doch die von der Regierung vorgeschlagenen Formulierungen gingen vielen nicht weit genug. Selbst linke und feministische Gruppen sagten zuletzt: Lieber keine als schlechte Änderungen. Der 40. Verfassungszusatz zur Fürsorge der Familienmitglieder füreinander wurde mit 74 Prozent der Stimmen abgelehnt, der 39. Verfassungszusatz zur Familie mit 68 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 44 Prozent.

Die Verfassung schreibt somit weiterhin vor, dass es die wirtschaftliche Aufgabe des Mannes sei, die Hausfrau zu finanzieren. Nur wenn Frauen als Mütter keine Verpflichtungen im Haushalt mehr haben – etwa, weil die Kinder nicht mehr zu Hause leben – soll es ihnen gestattet sein, neben der Haushaltsführung auch einer Lohnarbeit nachzugehen. Ebenso bleibt laut Verfassung die Frau wirtschaftlich vom Ehemann abhängig.

Der sozialistische Abgeordnete Paul Murphy schrieb in einer ersten Reaktion auf X: »Schlechte Formulierung, schlechte Kampagne, schlechte Regierung. Das ist das Ergebnis.« Auch die Präsidentin der stärksten Oppositionspartei Sinn Féin (SF), Mary Lou McDonald, sah im Ergebnis ein Versagen der Regierung: »Das waren Regierungsvorschläge, sie wählten den Wortlaut, sie wählten den Zeitpunkt. Sie machten einen Sololauf«, betonte sie im öffentlich-rechtlichen Sender RTÉ. Murphy forderte nun von »linken Parteien«, sich zu verpflichten, ein neues Referendum vorzuschlagen. Damit spielte er den Ball auch der SF zu, denn sozialistische Abgeordnete von People Before Profit (PB4P) wünschen sich eine linke Koalitionsregierung nach den Wahlen im kommenden Winter.

Die Niederlage wird vor allem die Regierungsparteien und den Ministerpräsidenten Leo Varadkar (Fine Gael) treffen, der die Verfassungsänderung im Herbst als ein wichtiges politisches Ziel auserkoren hatte. Auch Kevin Doyle von der Tageszeitung Irish Independent kommentiere auf X: »Ein Nein/Nein-Votum wird für die Regierung sehr schwer zu verteidigen sein.« Auch wenn die Regierung nun die Niederlage herunterspielen wolle und behaupte, die Demokratie habe gesprochen, sei das jahrzehntealte Anliegen zur Änderung des Verfassungsabschnitts über die »Pflichten im Haushalt« vermasselt worden. »Das ist schlechte Politik auf hohem Niveau«, so Doyle.

Die beiden konservativen Regierungsparteien Fine Gael und Fianna Fáil liegen in den Umfragen mit rund zehn Prozent mittlerweile abgeschlagen hinter der Oppositionspartei SF. Wie auch ihr Koalitionspartner der Grünen, könnten sie in Folge der Referenden weiter gegen die linken und mitte-linken Parteien SF, PB4P, Labour und Social Democrats verlieren.

Ob dies jedoch ausreicht, eine linke Koalition, die erstmals seit der Unabhängigkeit Irlands und dem Bürgerkrieg vor über 100 Jahren keine der konservativen Parteien umfassen würde, zu bilden, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass eine solche Koalition knapp die Parlamentsmehrheit verfehlen könnte. Die Konservativen werden sich in naher Zukunft jedoch nicht an ein neues Verfassungsreferendum trauen.

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