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Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Fukushima

13 Jahre danach

Warnung und psychologische Verarbeitung: Gedenkstätten in Japan zur Dreifachkatastrophe in Fukushima und noch immer verlassene Orte
Von Rudolf Stumberger
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Von der Natur zurückerobert: Nahe der Atomruine von Fukushima I ist noch immer Sperrgebiet

Die Ruine der Grundschule von Ukedo zeugt noch von der großen Katastrophe, die vor 13 Jahren die nördliche Westküste von Japan heimsuchte: zuerst das Seebeben, dann die zerstörerische Tsunamiwelle, wenige Stunden darauf die Reaktorkatastrophe im fünf Kilometer entfernten Atomreaktor Fukushima I. Das Schulgebäude mit seiner Betonarchitektur hielt zwar dem Wasser stand, wurde aber innen völlig verwüstet. Es ist heute einer der vielen Erinnerungsorte entlang der Küste, die an die schrecklichen Ereignisse erinnern. Eine Reise nach Fukushima zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der Erinnerung an mediale Bilder.

Ich weiß noch, wie ich im März 2011 in München vor dem Fernseher saß: auf dem Bildschirm die Liveübertragung aus Fukushima. Die Bilder, aufgenommen aus der Ferne mit einem Teleobjektiv, waren nicht sehr scharf. Irgendwann stieg eine weiße Wolke aus dem gezeigten Gebäude auf, der Reaktor war explodiert. Das Grauen erfasste nicht nur Japan, sondern auch den Rest der Welt: Was bedeutete dieser »größte anzunehmende Unfall« (GAU) in einem Atomkraftwerk für die Menschen, würde die ausgetretene Radioaktivität auf den ganzen Erdball verstreut und die Meere verseucht werden? Die Bilder aus dem Fernsehen machten Angst.

Jetzt sitze ich am Ufer des Ogawara-Sees in der Präfektur Aomori, ganz oben im Norden der japanischen Hauptinsel Honshū. Während die Sonne im See untergeht und ich mir ein paar Nudeln auf dem Campingkocher warm mache, düsen über mir F-35 Düsenjäger durch die Dämmerung. Sie kommen von der nahen Luftwaffenbasis in Misawa, die neben den Japanern auch von der US-amerikanischen Luftwaffe genutzt wird, Nordkorea liegt westlich auf dem gleichen Breitengrad. Mein Weg wird mich nach Süden führen, durch die Präfekturen Iwate und Miyagi bis nach Fukushima, im Gepäck ein Geigerzähler. Vorbei an Dutzenden von Erinnerungsorten, die von der großen Katastrophe Zeugnis geben.

Was übrig blieb

Hier in der Präfektur Aomori steht das »Minato Erfahrungs- und Lernzentrum« in der Küstenstadt Hachinohe. Es widmet sich der Geschichte der Stadt und dabei speziell den Katastrophen, wie sie überwunden wurden und wie man sich in Zukunft besser schützen kann. Das angegliederte Café serviert Speisen, die aus Notfallrationen gekocht wurden.

Ich sitze wieder im Auto, wegen des Linksverkehrs auf der rechten Seite, und fahre die Küstenstraße hinunter nach Süden. Hinter Hachinohe überquert man irgendwann die Grenze zur Präfektur Iwate und hier kann man sich zum Beispiel neben diversen anderen Tsunamierinnerungsorten das Hotel Taro Kanko ansehen – oder was davon übrig geblieben ist. Das Hotel an der Staaststraße 45 wurde bis zum vierten Stockwerk überflutet, die ersten beiden Etagen völlig zerstört. Wer an einem Workshop zum Thema Desastervorbereitung teilnimmt, kann auch ein Video ansehen, das aus dem sechsten Stock aufgenommen wurde und in dem die heranrollende Tsunamiwelle zu sehen ist.

Weiter geht es die Küste entlang nun in die Präfektur Miyagi hinein. Hier liegt die berühmte Matsushima-Bucht, einer der touristischen Höhepunkte von Rundreisen in Japan. Sie ist bekannt für die vorgelagerten 260 kleinen, mit Pinien bewachsenen Inseln und einige alten Schreine. Die Inseln waren auch der Grund, warum die Küstenstadt vom Tsunami weitgehend verschont blieb, sie brachen die Wucht der Welle. Nicht verschont aber wurde die Okawa-Grundschule in der benachbarten Stadt Ishinomaki. Dort kamen am 11. März 2001 47 Schüler und elf Lehrer ums Leben, die Ruinen sind heute ein Denkmal. Ebenso wie die Grundschulen in Yamamoto oder in Sendai, an die zehn Erinnerungsorte sind es allein in dieser Präfektur.

Der Tsunami hat mehr als 15.000 Menschen das Leben gekostet und war die bislang größte Katastrophe dieser Art, die Flutwelle drang mehr als einen Kilometer in die Küstenregion vor, trotz der Betonmauern, die vor dem Wasser schützen sollten. Das Ausmaß des Desasters erklärt vielleicht, warum innerhalb eines Jahrzehntes derartig viele Erinnerungsorte an der Nordküste entstanden sind. Ihre Funktion erschöpft sich nicht daran, an die Geschehnisse und die Opfer zu erinnern, sondern sie dienen auch als Mahnung und Vorbereitung auf den nächsten Ernstfall. Japan ist ein gebirgiges Land mit aktiven Vulkanen und die Bevölkerung lebt mit der ständigen Bedrohung eines Erdbebens oder eines Vulkanausbruchs. Diese Bedrohung ist in den Alltag integriert, über Nachrichtensender oder auch Apps gibt es ein Netz an Warnmöglichkeiten und Schulklassen trainieren, wie man sich im Ernstfall eines Erdbebens verhält. Für diese Verankerung im Alltag steht auch der Notfallbeutel, den man im Kaufhaus erwerben kann und der in keinem Haushalt fehlt. In ihm findet man Dinge, die man zum Überleben für ein paar Tage braucht: Notrationen, Lampen, ein Radio, Verbandszeug.

Die Einrichtung der Erinnerungsorte hat aber vielleicht auch eine psychologische Ursache. Japan ist ein Land, das stolz ist auf seine technischen Fähigkeiten und die reibungslose Organisation des Alltagslebens. Züge sind fast bis auf die Sekunde pünktlich und in der U-Bahn sind die Gehrichtungen für die Passanten genau geregelt. Auch in der täglichen Kommunikation geht es darum, möglichst keine Störfaktoren zur Geltung kommen zu lassen, Probleme werden mit Höflichkeit umschifft. So ist die Einhegung der dreifachen Katastrophe von 2011 durch die Errichtung der Denkmäler auch als Versuch zu sehen, die Wunde zu schließen und die japanische Seele zu entlasten.

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Vom Tsunami verbeult und zerdrückt, steht das Feuerwehrauto heute im Erdbeben- und Nuklearkatastrophenmuseum in Futaba

Über die Grenze

Ich habe die Großstadt Sendai jetzt hinter mich gelassen und fahre auf der Staatsstraße Nr. 6 nach Süden, hinter Yamamoto mit seiner zerstörten Grundschule überquere ich die Grenze zur Präfektur Fukushima. Der Name ist zum Inbegriff der größten Reaktorkatastrophe nach Three Mile Island und Tschernobyl geworden, doch er steht für verschiedene Dinge. Da ist zunächst die Präfektur Fukushima, diese Verwaltungseinheit umfasst 59 Kommunen mit einer Bevölkerung von 1,8 Millionen Menschen, ganz Japan ist so in 47 Präfekturen aufgeteilt. Und dann gibt es die Hauptstadt dieser Präfektur, sie heißt auch Fukushima, dort leben an die 282.000 Menschen. Schließlich das Atomkraftwerk Fukushima I, an der Küste gelegen.

Biegt man von der Schnellstraße Nr. 6 ab in Richtung Küste, gelangt man schließlich nach Minamisōma, die Stadt entstand 2006 durch den Zusammenschluss der drei Orte Odaka, Kashima und Haramachi City. Bis zur Katastrophe lebten hier rund 70.000 Einwohner. Der Tsunami verwüstete die Stadt und an die 1.000 Bewohner kamen ums Leben. Einen Tag später explodierte der 20 Kilometer weiter südlich gelegene Reaktor von Fukushima I und die Umgebung wurde radioaktiv verstrahlt, Teile der Stadt schließlich evakuiert. Es dauerte Jahre, bis die kontaminierte Erde abgetragen war und sich die radioaktiven Messwerte normalisierten.

Heute ist Minamisōma eine der Regionen, in die von den Behörden sehr viel Geld gepumpt wird, um die Schäden der Katastrophe auszugleichen. Man investiert Milliarden an Yen, um neue Industrien anzusiedeln und so auch einen Anreiz zu geben, damit die ehemaligen Bewohner zurückkehren. Ich parke in Küstennähe vor einer nagelneuen Anlage mit diversen Gebäuden und Einrichtungen, die auf einer größeren Fläche verteilt sind. Am Eingang treffe ich mich mit Mitarbeiterin Oka Kanako, sie wird mich durch das Testfeld führen. Zunächst steigen wir die Treppe hinauf auf das Dach, von hier hat man einen guten Überblick über die verschiedenen Stationen.

Da ist zum Beispiel der Nachbau einer Brücke, an ihm können die entsprechenden Katastrophen- und Rettungsszenarien mit dem Einsatz von Robotern nachgestellt werden. Es geht um Schäden durch Erdbeben und die Untersuchung von abgeplatztem Beton, um lose Bolzen oder um Brüche in der Konstruktion. Oder das Gebäude einer fünfstöckigen Fabrik, das mit Treppen, Fluchtwegen, Wasserinstallationen und Kaminen ausgestattet ist – hier geht es um die Simulation von Situationen wie Bränden mit Rauchentwicklung und die Beschaffung von Informationen über den Zustand des Gebäudes, Rettungswege und dergleichen. Auch eine Straßenkreuzung mit einigen Gebäuden findet sich auf dem Gelände, hier kann trainiert werden, wie man Hindernisse beseitigt oder wie man verletzte Personen aufspürt und sie forttransportiert. In der Ferne ist ein grünes Netz über einer asphaltierten Fläche zu sehen, hier werden Flugdrohnen getestet. Aufgrund des Netzes müssen die sonst üblichen Sicherheitsanforderungen für Drohnenflüge hier nicht eingehalten werden.

Das Robotertestfeld ist nur eine von mehreren Maßnahmen, um die vom Desaster gebeutelte Region wieder nach vorne zu bringen. Fährt man eine halbe Stunde weiter nach Süden, findet sich – gerade mal fünf Kilometer von der Ruine des Atomreaktors entfernt – eine weitere Ansammlung modernster Gebäude. Da ist in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Kleinstadt Futaba ein Businesscenter mit angeschlossenem Supermarkt, auf der Wiese gegenüber drehen Mähroboter ihre unzähligen Runden. Dieses Areal an der Küste war durch den Tsunami völlig zerstört, doch jetzt ist alles neu. Dazu gehört das »große ostjapanische Erdbeben- und Nuklearkatastrophenmuseum«, hier bin ich mit Museumsmitarbeiter Ikeda Akiyuki verabredet. Er zeigt mir das durch den Tsunami verbeulte und zerdrückte Feuerwehrauto und führt mich durch das Museum. Hier kann man sich detailliert über das damalige Geschehen informieren, etwa über den 12. März 2021, dem Tag nach dem Tsunami, als um 5.44 Uhr die Evakuierung in einem Umkreis von zehn Kilometern um ­Fukushima I angeordnet wurde.

Mühseliger Kampf

Betroffen war davon auch Futaba, das an die 7.000 Einwohner zählte. Die Einwohner mussten Hals über Kopf ihre Häuser verlassen und durften sie mehr als ein Jahrzehnt lang nicht mehr betreten. Erst seit dem Sommer 2022 ist eine Rückkehr wieder möglich, doch nur wenige machen davon Gebrauch. So stehen auch heute noch viele der Häuser so da, wie sie verlassen wurden: Mit Mobiliar, Vorhängen und Konservendosen in den Schränken. Etliche der Häuser sind inzwischen windschief geworden, so wie die Strommasten entlang der Straße. Noch ist die Tankstelle im Ort verlassen, aber der Bahnhof wurde wiedereröffnet und die Verwaltung hat ein neues Gebäude bezogen.

Eine Künstlergruppe hat die Fassaden der leerstehenden Häuser mit Graffiti verschönert, sie zeigen Gesichter verschiedener Menschen und sollen wohl Mut machen. Wer hier auf den Geigerzähler blickt, kann sich von normalen radioaktiven Messwerten überzeugen. Lange Jahre hinweg wurde die kontaminierte Erde abgetragen und die Dächer abgewaschen – ein mühseliger Kampf gegen die Folgen der radioaktiven Wolke. Doch noch ein paar Kilometer auf der Straße weiter in Richtung Atomruine und der Geigerzähler beginnt zu knarren – die Messwerte gehen in die Höhe. Denn hier ist noch immer die verbotene Zone, das Durchfahren ist zwar erlaubt, aber die Nebenstraßen sind nicht zugänglich, sie sind durch Scherengitter oder Polizeistreifen gesperrt.

In dieser verbotenen Region werden die leerstehenden Häuser immer mehr von Schlingpflanzen und Unkraut überwuchert, die Felder liegen brach. Auch 13 Jahre nach der Reaktorkatastrophe ist hier die Erde noch immer verstrahlt. Damals vermischten sich in den Nachrichten die Opfer des Tsunamis mit denen der Reaktorkatastrophe, doch an den direkten Folgen der radioaktiven Verstrahlung ist bisher nur ein früherer Mitarbeiter gestorben – die Regierung hatte 2018 den Zusammenhang bestätigt. Mehr Menschen sind an indirekten Folgen der Reaktorkatastrophe gestorben, so wie die 40 Personen bei der Evakuierung des Krankenhauses von Futaba.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (11. März 2024 um 11:00 Uhr)
    Fukushima war kein GAU, denn angenommen (!) hat niemand, dass so etwas passieren könnte, sonst wären die Folgen ja begrenzbar gewesen; für einen GAU kann man sich wappnen – glaubt man zumindest. Es handelte sich folglich – wieder einmal – um einen Super-GAU, also ein Ereignis, das die Vorstellungskraft der kleinen Größenwahnsinnigen, welche sich solche Dinge wie GAU ausdenken, buchstäblich gesprengt hat. Und wieder was gelernt: Die Definition von GAU musste erweitert werden. »Fun« Fact: Aufgrund schlechter PR spricht man nicht mehr so gerne von GAU, sondern nutzt, in guter Orwell’scher Manier, den Neusprechbegriff »Auslegungsstörfall«; nur ’ne »Störung« – Unfälle wurden, per definitionem, abgeschafft. »Fun« Fact 2: Es gibt keine Versicherungen für AKW, nicht mal für besagten GAU, äh, »Auslegungsstörfall«. Übrigens führt die, als »Klimawandel« verklärte, Katastrophe in Zeitlupe solche »Annahmen« ad absurdum. Enter Sandman, äh, SMR; Grüße ins niederländische Meppel (https://kurzelinks.de/AKW-NL). Weite Teile des Landes liegen unter dem Meeresspiegel; was kann da schon schiefgehen, unter der Annahme (!), dass daraus nicht (wieder) »unter dem Meer« wird? ;-) Apropos SMR: Es klingt wie ein Schildbürgerstreich, anzunehmen (!), dass viele (!), dafür aber »kleine« Reaktoren, das Risiko von »Störfällen« reduzieren würden – die Ingenieurwissenschaften sind da anderer (mathematisch beweisbarer!) Ansicht: je mehr Teile, desto höher die Fehlerwahrscheinlichkeit des Gesamten, gerne auch mal als Exponentialfunktion der Teileanzahl; sprich: Komplexität heißt der Feind – es gibt keine nicht komplexen SMR, und viele davon bilden ein noch komplexeres Konstrukt als die Summe seiner Teile. Gezeichnet: Ein geläuterter Atomkraftbefürworter – ist wie Exraucher, die schlimmste Sorte Nichtraucher. ;-)

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