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Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 12 / Thema
Argentinien

Repressive Austerität

Vor drei Monaten trat der ultralibertäre Javier Milei sein Amt als Präsident Argentiniens an. Mit seinem Projekt eines radikalen Staatsumbaus macht er ernst, hat sich damit aber schon heftige Proteste eingehandelt
Von Frederic Schnatterer
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Radikale Proteste gegen die Austeritätspolitik, staatliche Repression und wachsende Verarmung. Argentinien im Februar 2024

Am Freitag, dem 1. März, ist das argentinische Parlament offiziell aus seiner Sommerpause zurückgekehrt. Die verlief alles andere als ruhig. Im Januar rief die neue Regierung, die ihr Amt am 10. Dezember 2023 angetreten hatte, die Abgeordneten zu Sonderplena in den Kongress. Begleitet wurden die Sitzungen von Protesten der Opposition und der Gewerkschaftsbewegung, die weiter andauern. Den vorläufigen Höhepunkt stellte ein Generalstreik dar, bei dem am 24. Januar Hunderttausende die Straßen des Landes füllten. Hinzu kommen Streikaktionen einzelner Berufsgruppen, so zuletzt der Lehrer, der Krankenhausbeschäftigten und der Eisenbahnfahrer.

Gerade einmal drei Monate im Amt, befindet sich die argentinische Regierung mit ihrem Präsidenten Javier Milei an der Spitze bereits in der Krise. Die zwei extrem umfangreichen Gesetzespakete, die der Ultralibertäre in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft eingebracht hatte, liegen zumindest teilweise auf Eis. Hintergrund sind auch wachsende Konflikte mit dem inoffiziellen Koalitionspartner, der rechtskonservativen Partei Propuesta Republicana (Republikanischer Vorschlag, Pro) des Expräsidenten Mauricio ­Macri (2015–2019).

Gegner an mehreren Fronten

Zuletzt machte insbesondere der öffentlich ausgetragene Konflikt mit mehreren Provinzgouverneuren Schlagzeilen. Grund war die Ankündigung der Zentralregierung, 13,5 Milliarden Pesos (rund 14,1 Millionen Euro) an monatlichen Transferzahlungen an die Provinz Chubut im südlichen Patagonien zu stoppen. Wirtschaftsminister Luis Caputo erklärte, mit dem zurückbehaltenen Geld sollten die Schulden der Provinz gegenüber dem Staat beglichen werden. Im Gegenzug verkündete der Gouverneur von Chubut, Ignacio Torres, seine Region werde – gemeinsam mit den fünf anderen Provinzen Patagoniens – alle Erdgas- und Erdöllieferungen an den Rest des Landes stoppen, sollte Buenos Aires die Zahlungen wirklich unterbrechen.

Der Konflikt zeigt: Es ist nicht mehr nur die linke und peronistische Opposition, die Milei gegen sich aufbringt. Torres, der Gouverneur von Chubut, gehört Macris Pro-Partei an. Der hatte, nachdem seine Kandidatin Patricia Bullrich nicht in die Stichwahl eingezogen war, für die zweite Runde am 19. November 2023 zur Stimmabgabe für Milei aufgerufen. Es waren nicht zuletzt die Stimmen der Wählerschaft der Rechtskonservativen, die Milei schließlich ins Amt verhalfen. Auch im Kongress ist der neue Präsident auf die Unterstützung von Pro angewiesen. Seine Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) verfügt im argentinischen Unterhaus über weniger als 15 Prozent der Sitze, im Oberhaus sind es weniger als zehn Prozent.

Besonders eindrücklich zeigte sich das bei den Abstimmungen zum sogenannten Omnibusgesetz. Bereits Ende Dezember hatte Milei ein Paket mit ursprünglich 664 Einzelmaßnahmen ins Parlament eingebracht, das Folgen für praktisch alle Lebensbereiche gehabt hätte – lateinisch »omnibus«, »für alle«. Vorgesehen waren umfangreiche Privatisierungen sowie ein Umbau des Wirtschafts-, Wahl-, Sozial- und Bildungssystems. Besonders weit ging der Vorschlag, dem Präsidenten bis Ende 2025 die Befugnis zur Gesetzgebung zu übertragen – was der argentinischen Verfassung entgegenläuft. Begründet wurde der Schritt mit einem »öffentlichen Notstand«, der im Land herrsche.

Noch in der Phase, in der das Gesetzespaket der Parlamentskommission vorgelegt wurde, sah sich die Regierung gezwungen, zahlreiche Artikel auf Druck von Pro zurückzuziehen – vorwiegend aufgrund von Bedenken zur Verfassungsmäßigkeit. Am Ende blieben 382 Einzelgesetze, die dem Parlament inmitten der Sommerpause zur Abstimmung vorgelegt wurden. Nachdem eine Reihe von Einzelmaßnahmen von den Abgeordneten abgelehnt worden waren, entschloss sich die Präsidentenfraktion, das Paket zunächst zurückziehen, um sich in der Kommission Mehrheiten zu beschaffen. Seitdem harrt das Omnibusgesetz erst einmal einer Verabschiedung, ein neuer Abstimmungstermin steht bisher noch nicht fest.

Beobachter und die Opposition feierten das Ergebnis als bedeutende Niederlage für Milei. Mehrere Medien sprachen von der »ersten großen Krise« der noch jungen Regierung. Die Abgeordnete der trotzkistischen Frente de Izquierda (Front der Linken, FIT), Myriam Bregman, hob die Bedeutung der gegen das Gesetzespaket gerichteten Straßenproteste für das Abstimmungsergebnis hervor. Milei selbst tobte und bezeichnete die Abgeordneten, die gegen das Omnibusgesetz gestimmt hatten, als »Verräter« und als »Verbrecher, die das Land ruinieren«. Auf seinen Social-Media-Kanälen veröffentlichte er die Namen all jener, die mit Nein gestimmt hatten.

Bereits zuvor, nur wenige Tage nach seiner Amtseinführung, hatte Milei ein großes Gesetzespaket vorgestellt. Das sogenannte Eil- und Notdekret (Decreto de necesidad y urgencia, DNU) beinhaltete 366 Einzelmaßnahmen, die weitreichende wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Deregulierungen sowie zahlreiche Kürzungsmaßnahmen vorsehen. So ist unter anderem die Abschaffung des Mietgesetzes samt Mietpreisbremse vorgesehen, der Kauf von Land durch ausländische Staatsangehörige soll komplett liberalisiert werden.

Vorläufig ist das DNU zwar seit dem 29. Dezember in Kraft, wirklich gültig wird es jedoch erst, sobald beide Kongresskammern dem Paket zugestimmt haben werden. Einen schweren Rückschlag musste die Milei-Regierung dabei Anfang Januar hinnehmen: Ein Gericht stoppte mehrere Einzelgesetze, mit denen der Arbeitsmarkt dereguliert werden sollte. Sie hätten unter anderem die legale Probezeit verlängert, Zulagen gekürzt und das Streikrecht erheblich eingeschränkt. Geklagt hatte unter anderem der mächtige Gewerkschaftsverband Confederación General del ­Trabajo (CGT).

Die Regierung kündigte an, Berufung einlegen zu wollen. Allerdings wurden mittlerweile auch andere Bestandteile des Dekrets von Richtern kassiert. So wurde das Gesetz über den Kauf von Land außer Kraft gesetzt, ebenso wie die Regelung, die eine Umwandlung von Sportklubs in Aktiengesellschaften ermöglicht hätte. Auch der Abschnitt, mit dem die Beiträge zu privaten Krankenkassen dereguliert worden wären, wurde aufgehoben. Eine grundsätzliche Entscheidung des Obersten Gerichts, ob das Dekret verfassungsmäßig ist, steht noch aus.

Gezielte Verschlechterung

Doch auch wenn zentrale Vorhaben der Regierung derzeit blockiert sind: Der Umbau des argentinischen Staates schreitet voran. Sein neoliberales Programm, das er bereits im Wahlkampf skizziert hatte, brachte Milei bei seiner Amtseinführung am 10. Dezember 2023 mit den Worten »No hay plata« (Es gibt kein Geld) auf den Punkt: »Ich muss es Ihnen noch einmal sagen. Es gibt kein Geld«, sagte der frisch gekürte Präsident seinen Anhängern. Die einzige Möglichkeit sei die radikale Kürzung der Staatsausgaben: »Es gibt keine Alternative zu Anpassungen und Schock.«

Diese »Schocktherapie« solle, so Milei, die am Boden liegende zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas wieder auf die Füße stellen. Der Ultralibertäre strebt eine völlige Entfesselung der Privatwirtschaft, eine drastische Beschneidung des Sozialstaats und brutale Einschränkungen bürgerlicher und gewerkschaftlicher Rechte an. Dabei setzt er darauf, »dass sich die Situation kurzfristig verschlimmern wird, aber dann werden wir die Früchte unserer Bemühungen sehen«. Auch Wirtschaftsminister Caputo, der bereits während der Regierung Macri im Kabinett saß, betonte, ein Aufschwung sei nur nach einer »Verschlechterung der Lage« möglich.

Und eine solche ist – trotz des Gegenwinds für die Regierung – bereits bittere Realität. Laut einer Studie der Katholischen Universität von Argentinien (UCA) lebten im Januar 57,4 Prozent der Bevölkerung des Landes in Armut. Im Dezember hatte der Anteil bei 49,5 Prozent und im dritten Trimester 2023 bei 44,7 Prozent gelegen. Laut Definition gilt in Argentinien als arm, wer nicht genug Einkommen hat, um die sogenannte Canasta Básica Total (CBT) zu füllen. Dieser »Warenkorb zur Grundversorgung« enthält Lebensmittel, Fahrscheine für den Nahverkehr, Kleidung und Medizin. Der Anteil der »Bedürftigen« wiederum, der sich anhand der Canasta Básica Alimentaria (CBA), also dem »Warenkorb für Lebensmittel«, bemisst, stieg im Januar auf 15 Prozent. In absoluten Zahlen leben heute also rund 27 der 46 Millionen Argentinierinnen und Argentinier in Armut. Fast sieben Millionen von ihnen haben nicht genug Geld, sich Essen zu kaufen.

Die Kehrseite der sozialen Misere zeigen Zahlen aus dem Finanzministerium. Mitte Februar konnte das erste Mal seit mehr als einem Jahrzehnt ein Haushaltsüberschuss verkündet werden. In anderen Worten: Der argentinische Staat hat mehr eingenommen als ausgegeben. Zuletzt war das im August 2012 der Fall. Laut rechten Wirtschaftswissenschaftlern und anderen Milei-Apologeten befindet sich Argentinien bereits jetzt wieder auf dem Erfolgspfad. Auch die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung zeigte sich ob des Erreichten voller Lob für Milei.

Exorbitante Staatsverschuldung

Und auch der Internationale Währungsfonds (IWF) ist zufrieden. Ende Januar stellte IWF-Exekutivdirektorin Kristalina Georgiewa fest, die neue argentinische Regierung unternehme »mutige Schritte, um die makroökonomische Stabilität wiederherzustellen und langjährige Wachstumshindernisse zu beseitigen«. Das sei insbesondere notwendig, da ihre Vorgängerin »ein schwieriges Erbe« hinterlassen habe. Als Zeichen der Anerkennung gab die Finanzorganisation mit Sitz in Washington eine weitere Tranche von 4,7 Milliarden US-Dollar aus dem 44 Milliarden US-Dollar schweren Rekordkredit für Argentinien frei. Von diesem hat das Land mittlerweile 40,6 Milliarden ausgezahlt bekommen.

Macri hatte als Präsident 2018 einen Kredit in Höhe von 57 Milliarden US-Dollar beim IWF aufgenommen. Seither versucht Argentinien, den riesigen Schuldenberg abzutragen. 2022 handelte der damalige Wirtschaftsminister Sergio Massa, der die Stichwahl gegen Milei im vergangenen Jahr verlor, einen Deal mit der Washingtoner Behörde aus, der die Rückzahlung des Kredits neu regelte. Auch Macri könnte darauf setzen, einzelne Details des Abkommens mit dem IWF neu zu verhandeln. Nach einem Treffen mit Gita Gopinath, der Nummer zwei der Institution, erklärte er Ende Februar, dass er einen neuen Deal anstrebe. Ein solcher würde »mehr Auszahlungen für das Land« bedeuten, so Milei.

Für Cristina Fernández de Kirchner, Vizepräsidentin der vorherigen Regierung und von 2007 bis 2015 selbst argentinische Staatschefin, liegt die Ursache für die derzeitige Lage in der Verschuldung. In einem im Februar veröffentlichten 33seitigen Dokument¹ spricht sie von der derzeitigen Krise als der dritten großen Verschuldungskrise in den vergangenen 40 Jahren. Das »Hauptproblem der argentinischen Wirtschaft« sei nicht das Haushaltsdefizit, und die Ursache der Inflation nicht »die zu seiner Deckung notwendige Geldemission«. Vielmehr werde die Inflation in Argentinien durch den Mangel an US-Dollar ausgelöst. Die »zwanghafte Verschuldung in dieser Währung« verschlimmere diesen Mangel.

Milei und seine Minister sehen das natürlich anders. Statt der Inflation im Land den Kampf anzusagen, verkündete sein Wirtschaftsminister Caputo, nur knapp 48 Stunden nach Amtsantritt, die Abwertung des argentinischen Peso um 50 Prozent. Zuvor hatte er gegenüber der Öffentlichkeit erklärt, die Inflation sei lediglich eine Folge des Haushaltsdefizits. Um dieses zu beheben, kündigte er noch am selben Tag unter anderem an, dass es fortan nur noch neun statt 18 Ministerien geben werde. Alle öffentlichen Bauvorhaben wurden eingestellt, die Subventionen für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, von Gas, Strom und Elektrizität um 64 Prozent gekürzt. Sozialleistungen wie Renten und andere Hilfen für besonders Bedürftige wurden um 30 Prozent zusammengestrichen.

Im Januar stieg die jährliche Inflationsrate auf 254,2 Prozent und damit auf den höchsten Wert seit den 1990er Jahren. Laut Daten der nationalen Statistikbehörde INDEC lagen die Verbraucherpreise im Monatsvergleich 20,6 Prozent höher. In der Folge ging der private Konsum drastisch zurück. Das Onlineportal Ámbito Financiero schätzte den Rückgang im Februar auf neun Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Untersuchungen ergaben, dass es vor allem Waren und Dienstleistungen waren, die mit einer Preissteigerung von 40 Prozent teurer geworden sind. Der Verkehr verteuerte sich um 26 Prozent, Gesundheits- und Lebensmittel um mehr als 20 Prozent. Während auf der einen Seite die Preise explodieren, sinken die Reallöhne kontinuierlich. Laut dem Index, der die Löhne der Angestellten in formalen Arbeitsverhältnissen misst – darunter fällt etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung –, sank deren Kaufkraft allein im Dezember um 13 Prozent. Der Index ist seit sechs Jahren rückläufig. Arbeiter und Angestellte im Privatsektor verloren in den vergangenen zwei Monaten gar 23 Prozent ihrer Kaufkraft. Die moderaten Lohnsteigerungen halten schon lange nicht mehr mit der Inflation Schritt. Auch der Mindestlohn, der von der Regierung jüngst um 30 Prozent angehoben wurde und im Februar 180.000 Pesos (204 US-Dollar) betrug, reicht nicht annähernd zum Leben.

Für den Präsidenten und seinen Minister zeigen die Zahlen indes einen positiven Trend. So erklärte Milei im Interview mit der britischen Financial Times Ende Februar, die Geschwindigkeit der Inflation werde bald abnehmen. Ein deutliches Anzeichen dafür sei, dass sie im Januar im Vergleich zum Vormonat nur um 20,6 Prozent gestiegen sei, während die Zahl im Dezember noch bei 25,5 Prozent gelegen habe. Zuvor hatte Milei immer wieder davon gesprochen, der »schwerste Moment« komme zwischen März und April.

Konflikte anheizen

Um seine Anhängerschaft angesichts der Lage bei Laune zu halten, setzt der Präsident darauf, Konflikte weiter anzuheizen. Sie ermöglichen es ihm, das Narrativ von »der parasitären Kaste«, die vom Politikbetrieb lebe und wirkliche Veränderungen aus reinem Selbsterhaltungstrieb ablehne, aufrechtzuerhalten. Im Interview mit der Financial Times betonte er außerdem, nach der Abstimmungsniederlage beim Omnibusgesetz künftig verstärkt per Dekret regieren zu wollen. »Solange der Kongress so zusammengesetzt ist wie derzeit, wird es schwierig, Reformen zu verabschieden.« Es sei erneut deutlich geworden, »dass die Politiker kein Pro­blem damit haben, die Interessen der Argentinier zu schädigen, um ihre Privilegien zu behalten«. Die Selbstdarstellung als Rebell und »Antipolitiker« verschafft Milei viele Sympathien bei den vom etablierten Politbetrieb frustrierten Argentiniern.

Auch der jüngste Vorstoß der Regierung kann als Versuch gewertet werden, seine Anhänger mit Identitätspolitik aufzustacheln. Ende Februar kündigte Präsidentensprecher Manuel Adorni gegenüber der Presse an, dass fortan jegliche gendersensible Sprachnutzung und »alles, was mit der Geschlechterperspektive zu tun hat«, in der öffentlichen Verwaltung des Landes verboten ist. Bezugnehmend auf die im Spanischen gängigen Versuche, auch weibliche und nichtbinäre Personen sprachlich abzubilden, erklärte er: »Es wird nicht mehr möglich sein, den Buchstaben -e, das at-Zeichen, das -x zu verwenden.« Milei hatte jegliche Gleichstellungspolitik in der Vergangenheit wiederholt als »Indoktrination« und »Kulturmarxismus« bezeichnet. Bereits zuvor war eine entsprechende Maßnahme für die argentinischen Streitkräfte in Kraft getreten.

Während die Maßnahme gegen die Nutzung inklusiver Sprache zuvorderst auf der symbolischen Ebene verbleibt, dürfte sich die Regierung mit einer weiteren Attacke auf die feministische Bewegung deutlich mehr Ärger eingebrockt haben. Nur kurz nach der verlorenen Abstimmung über das Omnibusgesetz im Parlament, brachten mehrere Abgeordnete von La Libertad Avanza einen Gesetzentwurf ein, mit dem das seit 2020 in Argentinien bestehende Abtreibungsrecht gekippt würde. Er sieht nicht nur ein Ende der Regelung vor, dass Frauen bis zur 14. Schwangerschaftswoche legal und kostenfrei einen Abbruch unternehmen dürfen. Vielmehr ist er noch deutlich repressiver als das zwischen 1921 und 2020 geltende Recht. So sollen Abtreibungen selbst im Falle von Vergewaltigung strafbar sein, die vorgeschlagenen Strafen liegen bei bis zu drei Jahren Haft.

Es ist wahrscheinlich, dass die Proteste gegen derlei Maßnahmen, aber auch die soziale Misere sich schon bald verschärfen werden – selbst der IWF fragte Ende Februar besorgt nach dem Durchhaltevermögen der argentinischen Bevölkerung. Angesichts dessen setzt die Regierung auf Repression. Schon direkt nach ihrem Amtsantritt hatte Patricia Bullrich, die Ministerin für innere Sicherheit, eine Anweisung zum Umgang der staatlichen Einsatzkräfte mit Sozialprotesten vorgestellt. Die umgangssprachlich als »Protocolo antipiquete« bezeichnete Anweisung habe den Zweck, geltendes Recht durchzusetzen, versicherte Bullrich damals. Festgelegt wird unter anderem, dass die der Zen­tralregierung unterstehenden Einheiten »in Fällen von Behinderungen des Personen- und motorisierten Verkehrs« sowie von »teilweisen oder kompletten Straßensperren« sofort eingreifen sollen. Auch sollen die Teilnehmer von Demonstrationen verstärkt überwacht und gefilmt werden, um sie später für die bei der Räumung entstehenden Kosten aufkommen zu lassen.

Verfassungsrechtler kritisieren ebenso wie die Opposition die Anweisung als illegal und repressiv. Auch von den Vereinten Nationen sowie den Gewerkschaften kam scharfe Kritik. In einem Schreiben warnten Ende Januar Clément Nyaletsossi Voule, Berichterstatter für das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Irene Khan, Berichterstatterin für die Förderung und den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, und Mary Lawlor, UN-Sonderberichterstatterin für die Situation von Menschenrechtsverteidigern, davor, dass die Regelung das Recht auf friedliche Versammlungen einschränke.

Derweil arbeitet die Regierung bereits daran, zukünftige Repression zu rechtfertigen. Gegenüber der Financial Times behauptete Milei, er sehe es als sehr unwahrscheinlich an, dass es in Argentinien zu großen Protesten komme: »Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem sozialen Aufstand kommt, ist gleich null.« Ein solcher sei nur möglich, wenn er »politisch oder von ausländischen Provokateuren herbeigeführt« werde. So hätten sich in die jüngsten Proteste als Fotografen getarnte »Aktivisten aus Venezuela und Kuba« eingeschlichen. »Linke Regierungen arbeiten zusammen um diejenigen, die nicht wie sie sind, zu sabotieren.«

Anmerkung

1 https://drive.google.com/file/d/1n3eXVLv9NdCQmN85sdNugdepyqQP2AQe/view

Frederic Schnatterer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. Januar 2024 über den Narkostaat Ecuador.

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