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Aus: Ausgabe vom 08.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Sozialistisches Kulturerbe

Die Tränen Katjuschas

Wem gehört die sowjetische Kultur? Gedanken über das Verhältnis von nationaler und politischer Identität
Von Alina Fuchs
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In der UdSSR war vom sowjetischen Volk die Rede, aber seit ihrem Zerfall kämpfen die verschiedenen Völker um ein Stück des Ruhms (XII. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, Moskau 1985)

Vor einiger Zeit konnte man unter einem Youtube-Video, das zum Lied »Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten« (der deutsche Titel des sowjetischen Soldatenlieds »Katjuscha«) ein Platten­cover aus DDR-Zeiten zeigte, folgenden Kommentar lesen: »Man kann kein russisches Lied auf deutsch machen. Sehe ich als Russe als Beleidigung.« Unabhängig davon, dass sich nicht verifizieren lässt, ob der Internetnutzer wirklich Russe ist oder nur pöbeln wollte, wirft der Kommentar eine interessante kulturpolitische Frage auf: Wem gehört eigentlich die sowjetische Kultur? Ist sie national, ist sie staatlich, ist sie politisch? Kann oder muss sie sogar als international betrachtet werden? Am Beispiel des offiziellen Liedguts der UdSSR im allgemeinen und »Katjuscha« im besonderen möchte ich zeigen, dass die Antwort auf diese Fragen uneindeutig ist.

Sowjetisches Volk

Zuerst gilt es, das nationale Argument des Internetnutzers zu betrachten. Er versteht »Katjuscha« als russisch. Aber so einfach ist es nicht. Zwar wurde das Lied in russischer Sprache verfasst und erlangte im Großen Vaterländischen Krieg, während dem das National­russische in der UdSSR eine Aufwertung erfuhr, große Beliebtheit, aber es einfach russisch zu nennen greift zu kurz. Als ein Lied über ein Mädchen, das ihren kriegsdienstleistenden Freund vermisst, ist es mit der Sowjetunion als Staat verknüpft und wird, weil es dem berühmten Raketenwerfer den Namen gab, heutzutage bisweilen mit antifaschistischen Motiven in Verbindung gebracht. Nichtsdestotrotz ist der Aspekt des Nationalen in »Katjuscha« mit der Rede von Heimat und Dienst am Vaterland nicht zu vernachlässigen. Diese Rezeption in der UdSSR wird vor allem im satirischen Jazzlied »Keine Gnade den Bastarden« aus der Kriegszeit deutlich, das den Großen Vaterländischen Krieg als nationale Sache darstellt und auch auf den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon Bezug nimmt. Dabei bedient sich der Sänger auch einer Zeile aus »Katjuscha«, die dort als Raketenwerfer auftaucht und die feindlichen Soldaten – im Lied als Deutsche identifiziert – vernichtet. Die nationale Identität der Feinde war in der UdSSR nicht deren alleinige Bestimmung, oft wurden sie explizit als faschistisch benannt. Trotzdem liegt hier der Grund für den besonderen Anstoß, den der russische Internetnutzer an der deutschen Adaption nimmt. Die Wehrmacht war eben zweierlei, eine deutsche und eine faschistische Armee. Bereits im Erste Weltkrieg war ein deutsches Heer in das damalige Russische Reich eingefallen.

Hier tut sich ein Teilproblem des nationalen Arguments auf: Die UdSSR war – ebenso wie das Russische Reich – ein multiethnischer Staat. Gegen die deutschen Invasoren kämpften nicht nur ­Russen, sondern auch Belarussen, Ukrainer, Usbeken, Georgier u. v. m., die sich mit den genannten Liedern hätten identifizieren können. In der UdSSR war auch viel vom sowjetischen Volk die Rede, aber seit ihrem Zerfall in ihre Teil­republiken kämpfen die verschiedenen Völker um ein Stück des Ruhms. So beanspruchen manche russischen Nationalisten das sowjetische Liedgut für sich, während Angehörige anderer Sowjet­völker um ihre explizite Nennung in Gedenkstätten ringen, wie etwa die Usbeken, die eine eigene Tafel für die usbekischen Rotarmisten zur Gedenkstätte in Schloß-Holte Stukenbrock in Westfalen hinzufügten. Nicht ganz zu Unrecht, da die Regierung Adenauer dort eine auf einem Obelisken plazierte sowjetische Flagge durch ein orthodoxes Kreuz hatte austauschen lassen und somit die Soldaten der christlich-orthodox geprägten Sowjetrepubliken denen anderer Republiken vorzogen. Denn auch – und vor allem – die Fremdzuschreibungen von westlicher Seite machten aus den diversen Sowjetbürgern einfach »­Russen«. Die Teilhabe der anderen Völker der UdSSR an deren Politkultur wird ihnen mit einer russisch-nationalen Argumentation abgesprochen. Aufgrund der Dominanz großrussischer Kultur und der russischen Sprache im offiziellen ­sowjetischen Liedgut muss dieses jedoch gerade als Teil einer spezifisch sowjetrussischen Kultur verstanden werden.

Doch war die Sowjetunion mehr als ein gemeinsamer Staat unterschiedlicher Nationen. Sie war auch ein sozialistischer Staat mit Wurzeln in der Arbeiterbewegung, der nach dem Zweiten Weltkrieg eng mit seinen sogenannten Satellitenstaaten verbunden war. ­Darauf verweist ein weiterer Kommentator des Videos, der die Präsenz sowjetischer Kultur in der DDR betont. »Katjuscha« mag für eine solche Argumentation aufgrund der Verbindung zum Zweiten Weltkrieg nur bedingt geeignet sein, jedoch trifft sie auf das meiste andere offizielle Liedgut zu, das durchaus unter den Bruderstaaten »geteilt« wurde. Gute Beispiele wären etwa »W put«/»Unterwegs« und »Pesnja o trewoschnoi ­Molodosti«/»Lied von der unruhevollen Jugend«. Aber auch über den sogenannten Ostblock hinaus rezipierten politisch links denkende Menschen sowjetische Lieder. So ruft etwa der schwarze Block noch heute »Was bricht jeden Nazischwur? Stalinorgel-Deutschland-Tour!« – und lässt mit dem Verweis auf den gefürchteten Raketenwerfer die durch den historischen Kontext gegebenen antifaschistischen Motive von »Katjuscha« hervortreten.

So gerät der politische Charakter des sowjetischen Lieds wieder in den Blick. In der Arbeiterbewegung war es getreu ihres internationalen und internationalistischen Charakters immer üblich, Lieder aus anderen Ländern (frei) zu übersetzen oder umzudichten, so wurde z. B. »Belaja armija – tschjorny baron« zu »Die Arbeiter von Wien« wurde. Selbiges geschah mit Marschliedern, die ursprünglich überhaupt nichts mit der Arbeiterbewegung zu tun hatten. Die Übernahme offiziellen sowjetische Liedguts muss den Zeitgenossen nur natürlich erschienen sein – man hatte es ja immer schon so getan, wieso hätten die Lieder eines sozialistischen Staates nur der Bevölkerung desselben vorbehalten sein sollen? Diese Tradition muss einem bewusst sein, wenn man darüber diskutiert, wem die sowjetischen Lieder gehören und wer sie als sein Erbe beanspruchen darf.

Gemeinsames Erbe

Wir sehen, dass heute viele Gruppen das Liedgut der UdSSR als zu ihnen gehörig begreifen können: Staatsangehörige der ehemaligen Sowjetrepubliken im allgemeinen (qua Staatsbürgerschaft) und Russen im besonderen (Nationalkolorit und Sprache), aber auch, zumindest teilweise, Bürger der ehemaligen »Bruderstaaten«. Zudem alle Kommunisten, die in der Tradition der Sowjetunion stehen.

Der erzürnte Internetnutzer hatte also kein Recht, Deutschen das Übersetzen von »Katjuscha« verbieten zu wollen. Sein Unbehagen angesichts des historischen Hintergrunds ist verständlich, aber nicht maßgeblich. Sowohl ehemalige Bürger der DDR, als auch westdeutsche Kommunisten und Antifaschisten, können das Lied zu ihrer Tradition zählen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Klaus W. aus Leipzig (8. März 2024 um 13:43 Uhr)
    Das Lied in deutscher Übersetzung stand im Liederbuch der Mittelschule, an die ich in den 90ern in Sachsen ging, und wir haben es gelernt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard J. aus Wien (8. März 2024 um 08:50 Uhr)
    Mehr noch: Katjuscha war z. B. in Italien (»Fischia il vento«) und in Griechenland (»Τρία γράμματα« – drei Buchstaben, gemeint sind EAM = Nationale Befreiungsfront) mit explizit antifaschistischem Text eines der wichtigsten Lieder des Befreiungskampfes gegen die faschistische deutsche Besatzung.
  • Leserbrief von R.Brand (7. März 2024 um 23:04 Uhr)
    Es gab doch wohl genug Kommunisten, die auf sowjetischer Seite gekämpft haben. Und deren Staat war die Deutsche Demokratische Republik, Amtssprache deutsch.

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