4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 08.03.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Strahlende Zukunft für Zeeland

Atomkraft ohne Ende

Niederländisches Parlament beschließt den Bau von vier neuen Kernkraftwerken. 50 Jahre alter Reaktor könnte noch bis 2050 weiterlaufen
Von Gerrit Hoekman
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»Niederlande ist Lobbyländle auf Kosten der Allgemeinheit« (Umweltprotest am 12.11.2023 in Amsterdam)

Die Gasförderung im niederländischen Groningen soll noch in diesem Jahr zu Ende gehen. Die Anwohner haben schließlich lange genug unter den permanenten Erdstößen gelitten, die mit der Förderung einhergingen. Das niederländische Parlament setzt nun voll auf Kernenergie. Am Dienstag beschloss die Mehrheit der Abgeordneten, dass vier neue Reaktoren gebaut werden sollen – doppelt so viele wie die Regierung wollte. Grüne, Sozialdemokraten, die sozialistische SP und die Tierschutzpartei stimmten dagegen.

Zwei der neuen Reaktoren werden wohl neben dem aktuell einzigen niederländischen AKW in Borssele in der Provinz Zeeland gebaut. Spätestens 2035 sollen sie ans Netz gehen. Borssele wird von der EPZ (Elektriciteits Produktiemaatschappij Zuid-Nederland) betrieben, an dem der deutsche Energieriese RWE einen Anteil von 30 Prozent hält. Der Reaktor hat 50 Jahre Laufzeit auf dem Buckel und sollte schon 2004 den Betrieb einstellen, aber ein Gericht entschied anders.

»Das Ende unseres Kernkraftwerks ist noch nicht in Sicht. Es kann bis 2050 oder darüber hinaus weiterlaufen«, jubelt die EPZ aktuell auf ihrer Homepage. Ist so ein Methusalem nicht gefährlich? Ach was, beruhigt das Unternehmen alle Skeptiker: »In den vergangenen 50 Jahren ist das Kernkraftwerk wohl tausendmal sicherer geworden.« Die EPZ hat noch weit größere Pläne. »2050 betreiben wir immer noch das heutige Atomkraftwerk, wir haben zwei große Blöcke in Betrieb, und wir betreiben mehrere kleine modulare Reaktoren (SMR) in den Niederlanden«, skizziert das Unternehmen seine strahlende Zukunft.

Die SMR könnten direkt neben Datazentren stehen, die bekanntlich Unmengen an Strom verbrauchen. »Mit der Wärme, die übrigbleibt, kann man Gewächshäuser oder Wohnviertel in der Nachbarschaft heizen.« Sie passen auch ideal in die Landschaft. »Es sind keine Hochspannungsleitungen oder Kühltürme erforderlich. Und ein SMR erzeugt weder Treibhausgase noch Stickstoff.« Ein Super-GAU, der wie im japanischen Fukushima ganze Landstriche radioaktiv verseucht, kommt in den Fieberträumen der EPZ nicht vor.

»Ich finde es absurd, dass so ein großes Projekt in der Nähe eines Dorfes gebaut wird, während auf der Maasvlakte genug Platz vorhanden ist«, so ein besorgter Anwohner von Borssele am Mittwoch gegenüber dem Regionalsender Omroep Zeeland. Maasvlakte ist der jüngste Teil des Rotterdamer Seehafens. Dort legen die größten Öltanker und Containerschiffe der Welt an. Nach Borssele sind es etwa 100 Kilometer Luftlinie. Allerdings liegt die sogenannte Randstad Holland, mit acht Millionen Menschen die am dichtesten besiedelte Region des Landes, gleich um die Ecke.

Die zwei zusätzlichen Reaktoren, die das niederländische Parlament am Dienstag beschlossen hat, sollen ab 2040 Strom liefern. Die »Boer Burger Beweging« (Bauer-Bürger-Bewegung, BBB), die seit 2023 stärkste Kraft im Parlament der Provinz Groningen ist, will ein AKW unbedingt in den Norden holen. »Wenn man Industrie und Beschäftigung in unserer Provinz erhalten und fördern will, muss man auf zuverlässige und verfügbare Energie setzen«, sagte der Fraktionschef der BBB in Groningen, Gouke Moes, am Dienstag im Regionalsender RTV Noord. »Mit einem Kernkraftwerk kann man Windkraftanlagen ausmustern.«

In der Kleinstadt Meppel wollen einige Bürgerinnen und Bürger nicht so lange warten. Sie haben aus eigenen Stücken begonnen, einen Reaktor zu bauen. »Wir können das prima selbst«, zitierte die Internetseite Nieuwspaal am Dienstag den Initiator Ron Leuning. Das Fundament aus Beton ist bereits gegossen. »Unser Meiler erzeugt genug Strom, um das ganze Viertel zu versorgen. Dann können endlich die hässlichen Solarpaneele runter von den Dächern.« Brennstäbe hofft er aus dem britischen Sellafield zu bekommen. »Es wäre phantastisch, wenn jedes Viertel seinen eigenen kleinen Nachbarschaftsreaktor hätte«, ist auch der Bürgermeister begeistert.

Sind die Niederländer jetzt etwa komplett durchgeknallt? Nein. Nieuwspaal ist eine Satireseite im Internet. Der Bau von vier neuen Kernkraftwerken ist schließlich schon verrückt genug. Besonders wenn man keinen Plan hat, wohin mit dem Atommüll. Die Tektonik der Niederlande ist für ein Endlager denkbar ungeeignet.

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